ver.di-bundeskongress : Ungeschoren durch den Herbst
Welche Gewerkschaft tagt da eigentlich gerade in Berlin? Gut, es ist der Bundeskongress von Ver.di. Doch die Rhetorik unterscheidet sich kaum von jener auf dem Gewerkschaftstag der IG Metall unlängst in Hannover. Natürlich wird gegen die Sozialreformen protestiert. Beide Gewerkschaften wollen nicht als „Reparaturkolonne der Politik“ herhalten, ihre Strategie lautet einmütig „Dialog und Mobilisierung“. Die Worte gleichen sich – die Problemlagen auch. Ver.di wie die IG Metall befinden sich in einer No-Win-Situation: Bei Verweigerung treiben die Gewerkschaften noch weiter in die politische Isolation – das kostet Mitglieder; bei Einlenken droht das Image des Erfüllungsgehilfen der Bundesregierung – das kostet ebenfalls Mitglieder.
Kommentar von THILO KNOTT
Ver.di wie IG Metall müssen also einen Spagat aushalten – bei nicht gerade günstigen Rahmenbedingungen. Seit der Fusion aus fünf Vorläuferverbänden im Jahr 2001 sind der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft 250.000 Mitglieder davongelaufen. Das liegt an der Wirtschaftskrise und dem Verlust vieler Arbeitsplätze, aber auch an einer veränderten Wahrnehmung der Gewerkschaften insgesamt. Seit Kanzler Schröders Agenda 2010, seit März also, werden die Gewerkschaften als Blockierer wahrgenommen – zu Recht. Sie wollten nicht wahrhaben, dass auch in den Organisationen viele Mitglieder die Notwendigkeit der Reformen einsahen – und ließen eine eigene Programmatik vermissen, verließen sich hingegen auf das Mittel der Drohgebärde. Die Quittung haben sie bekommen: Massenproteste waren angekündigt, doch gerade einmal 90.000 Gewerkschaftsmitglieder gingen auf die Straße.
So braucht es nicht zu verwundern, wenn Ver.di wie auch die IG Metall nicht zur Großdemonstration gegen die Sozialreformen am 1. November aufgerufen haben – wie das Attac oder die Sozialverbände tun. Die Gewerkschaften trauen sich nicht, weil sie eine neuerliche Blamage nur schwer verkraften könnten. Die IG Metall traut sich nicht, weil sie nach der Niederlage im Oststreik und infolge des Personalgeschachers an der Spitze an Ansehen verloren hat; Ver.di nicht, weil sie sich kein zweites Großproblem aufhalsen kann, wo sie zweieinhalb Jahre nach der Fusion noch immer vollauf mit der innergewerkschaftlichen Strukturreform beschäftigt ist. Durch den Reformherbst können sie sich nur durchlavieren und hoffen, halbwegs ungeschoren davonzukommen.
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