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Archiv-Artikel

Mächtiger Traum

In seinem neuen Buch erklärt Jeremy Rifkin, warum bald schon der leisen Supermacht Europa die Zukunft gehört

Der „Europäische Traum“, den Jeremy Rifkin schon im Titel seines neuen Buches und dann auf mehr als 300 Seiten wortreich beschwört, ist für ihn keine Träumerei. Er ist eine äußerst konkrete Vision und hat daher ganz praktische Realitätsmacht – so wie sein berühmter Vorgänger, der „Amerikanische Traum“.

Dieser Traum hat schließlich über mehrere Generationen Millionen von Menschen dazu gebracht, ihre Heimat zu verlassen, einen Kontinent zu erobern und eine neue Art von Nationalstaat zu schaffen. Die Vereinigten Staaten sind also nicht auf ethnischer Einheitlichkeit begründet, sondern auf einem kulturellen Kanon und ein paar zentralen Werten: der Gleichheit aller Menschen, individueller Autonomie, der fast religiösen Überzeugung, dass jeder es schaffen kann – zumindest materiell.

Doch dieser Traum, so Rifkins Überzeugung, gehört der Vergangenheit an. Heutzutage sei der amerikanische Traum eher zum Hemmschuh des Fortschritts geworden – und erlebe seinen Niedergang.

Europa dagegen habe die Qualitäten, die heute benötigt würden: Es hält den Individualismus hoch, aber nicht auf Kosten sozialer und kooperativer Werte; es hat die klassische Machtpolitik hinter sich gelassen und denkt in Netzwerken; statt eindimensionalem Patriotismus haben Europäer eher multiple Identitäten, in denen sich Europäertum, Nation und Region überschneiden; statt Kriegspathos herrscht hier Friedenspathos.

In Europa leben zudem mehr Millionäre als in Amerika, und Europas Multis können es mit den amerikanischen längst aufnehmen. Die Sehnsüchtigen dieser Welt wollen nicht mehr nur in die USA, sie zwängen sich auf Booten zusammen, um ins gelobte Europa zu gelangen. Mit der EU ist den Europäern gelungen, ein Modell für „polyzentrisches“, „prozessuales“ Regieren zu entwickeln, das auf der Höhe unserer Zeit ist – einer Zeit, die von Netzwerken statt von Hierarchien geprägt ist, von Kooperation statt von Konkurrenz.

All das ist ein bisschen grob zugehauen und kommt mit viel pausbäckigem Pathos daher. „In Europa herrscht Aufbruchstimmung, neue Chancen liegen in der Luft“, jubelt Rifkin. Genügend fiele einem ein, was des Autors rosige Sicht konterkarieren würde. Gewiss ist die europäische Netzwerkstruktur mit ihrem Mehrebenensystem und ihrer Machtteilung insofern „modern“, als sie die dezentral prozessierende Struktur des globalen Kapitalismus widerspiegelt. Sie ist auf jeden Fall „moderner“ als die traditionelle Art amerikanischer Machtpolitik. Nichtsdestoweniger erweist sich aber immer wieder die traditionelle Art von Macht als effektiv. Wann immer es hart auf hart kommt, sorgt die laute Supermacht USA für die Musik, nicht die leise Supermacht Europa. Über diese und andere Defizite geht Rifkin ein bisschen nonchalant hinweg. Auch der kulturelle Attraktivität der „Amerikanisierung“ wird etwas wenig Bedeutung beigemessen. Die USA sind nicht ganz so verhasst und auch nicht ganz so im Sturzflug, wie Rifkin tut.

Man kennt das in der politischen Publizistik: Da bläst einer seine These ein wenig zu sehr auf, „for the sake of the argument“, wie die Amerikaner sagen. Und wer könnte das besser als Jeremy Rifkin. Er ist nicht nur ein global operierender Politberater, sondern auch Präsident der „Foundation on Economic Trends“ in Washington – und seit seinem Buch „Das Ende der Arbeit“ als Autor von Sachbuch-Bestsellern bekannt.

Doch ganz falsch ist die große These vom europäischen Traum deswegen nicht. Mag der feierliche Ton da und dort nerven, womöglich sieht da jemand aus der Ferne etwas, das aus der Nähe bisweilen zu wenig geschätzt wird: der neuerliche Aufstieg Europas zu einem Global Player und einem bewunderten Modell für die Welt. ROBERT MISIK

Jeremy Rifkin: „Der Europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht“. Aus dem Englischen von Hartmut Schickert. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004. 320 Seiten, 24,90 Euro