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Archiv-Artikel

Mensch ohne Menschheit

Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden: Terézia Mora porträtiert in ihrem großen, unangestrengt artistischen Roman „Alle Tage“ einen jungen Mann, der weniger an der Welt zugrunde geht als an seiner Angst, seiner Scham, seiner Unberührbarkeit

Avantgarde und Genuss passen ausnahmsweise einmal zusammen

von JÖRG MAGENAU

Für die alten Griechen waren alle Nichtgriechen „Barbaren“, weil sie nur Blabla sagen konnten und kein zivilisiertes Griechisch sprachen. Im Slawischen gibt es das Wort „Nemec“, das eine ähnliche Bedeutung hat. Es heißt „Der Stumme“, bezeichnete früher alle Nichtslawen, heute vor allem die Deutschen. Abel Nema, die Hauptfigur in Terézia Moras Roman „Alle Tage“, hat also einen sprechenden Namen. Nema: Der Stumme, der Barbar. Das erfährt man gleich auf den ersten Seiten, auf denen auch das Ende des Geschehens geschildert wird: Abel Nema hängt kopfunter am Klettergerüst eines Spielplatzes. Seine Füße sind mit Klebeband an der Stange befestigt. Sein schwarzer Mantel flattert im Wind. Schwer zu sagen, ob noch Leben in ihm ist. Liest man Nema rückwärts, kommt Amen heraus: Ja, so sei es. Derartige formelhafte Zustimmung ist schließlich alles, was er noch sagen will: „Es ist gut.“ So endet das Buch.

Dass Abel Nema die Bühne der Weltliteratur betritt, kann man also nicht sagen. Er ist einfach da, und man wird ihn nicht wieder los. Diese Figur ist so wunderlich wie Oskar Matzerath, so zählebig wie Franz Biberkopf, so vergangenheitsbestimmt wie Gesine Cresspahl und ist doch vor allem zeitgenössisch. Abel Nema ist einer der vielen aus dem „Welttransitstrom“ der Gegenwart, eine „Displaced Person“ der Globalisierung. Nach dem Abitur hat er seine Heimatstadt „S.“ verlassen, die irgendwo in einem osteuropäischen Land liegt, das es heute nicht mehr gibt. Wer will, kann an Jugoslawien denken. Und die westeuropäische Stadt „B.“, durch die er sich stets orientierungslos bewegt, könnte Berlin sein. Auch Terézia Mora kam 1990 aus dem ungarischen Sopron nach Berlin, von S. nach B. Der Aufbruch aus der Jugend in die Selbstständigkeit, aus dem Osten in den Westen, aus der alten in die neue, nachsozialistische Zeit, fiel für sie und ihren Romanhelden zusammen.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Sprachbegabung. Abel Nema begibt sich in B. so lange ins Sprachlabor, bis er perfekt und akzentfrei zehn Sprachen beherrscht. Doch die Konzentration auf den Spracherwerb macht ihn für Gespräche untauglich. Er ist ein Chemiker der Sprache, der alle Elemente kennt, sich aber nicht mitteilen kann. Er ist in zehn Sprachen fremd. Das macht seine Lage nicht besser. Seine Tätigkeit als Übersetzer und als Sprachlehrer ist die Konsequenz dieser Fähigkeiten, die Mora ihm mitgegeben hat, weil sie sich damit auskennt. Sie hat als Übersetzerin aus dem Ungarischen unter anderem Peter Esterhazys gewaltigen Roman „Harmonia Caelestis“ ins Deutsche gebracht. Eine gute Schule, die aber nicht ihre Sprachmächtigkeit erklärt, ihren spielerischen Umgang mit der deutschen Syntax, die poetischen Verdichtungen, den temporeichen Sog mit waghalsigen Perspektivwechseln mitten im Satz und eingeschobenen Dialogen, mit raschen Schnitten, die den chronologischen Ablauf zertrümmern, ohne dass doch das Ganze angestrengt und unübersichtlich wirken würde. Man liest und ist berauscht. Avantgarde und Genuss passen ausnahmsweise einmal zusammen. „Alle Tage“ ist Moras erster Roman –nach einem Erzählungsband 1999. Im Jahr 2000 gewann sie den Bachmannpreis.

Der Titel „Alle Tage“ bezieht sich auf ein gleichnamiges Gedicht von Ingeborg Bachmann, das mit den Sätzen beginnt: „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden.“ Darin ist die Stimmung dieses Romans ausgedrückt, der Bachmann auch ansonsten einiges zu verdanken hat. Kaum angekommen in B. erfährt Abel, dass in seiner Heimat ein Krieg ausbrach und er zum Militär eingezogen wurde. Er ist zum Deserteur geworden und kann nicht wieder zurück. Ein Flüchtling.

Doch seine Flucht hatte keine politischen Gründe. Sie war die Folge einer Liebesverzweiflung. Als er seinem Jugendfreund Ilia in einem Moment der Überwältigung gestand: „Ich liebe dich“, sagte der bloß: „Ich weiß“ und kündigte an, Stadt und Land zu verlassen. Abel sieht ihn nie wieder und kommt über diese Verletzung nie hinweg.

In die Fremde kommt er als Liebeskranker. Oder vielmehr: als einer, der seither für die Liebe verloren ist. An Gelegenheiten mangelt es nicht. Die Frauen sind ganz wild auf ihn. Meist sind es ältere Frauen, die ihn lieben möchten: Eine frühere Geliebte seines Vaters, der sich auch schon davon gemacht hat und niemals wiederkam. Eine chaotische, manisch-depressive Musikerin mit dem Namen Kinga. Und schließlich und vor allem die Lektorin Mercedes, die mit Abel Nema eine Scheinehe eingeht, um ihm zu neuen Papieren und Aufenthaltsrecht zu verhelfen. Die Scheinehe ist also der Höhepunkt der Liebeslaufbahn.

Denn Abel empfindet wenig Zuneigung für Frauen. Auf die Liebe, die er magisch anzieht, kann er nicht reagieren. Er schweigt, und seine Zunge ist taub. Er besitzt keinen Geschmackssinn, und der Alkohol, den er sich literweise zuführt, berauscht ihn nicht. Zum Begehren unterhält er ein ähnliches Fremdheitsverhältnis wie zur Sprache: Er bewegt sich darin, ohne dazuzugehören. Abel Nema, der Unberührbare. Dass er sich für schöne Knaben interessiert, ist ein Geheimnis, das er vor sich selbst sorgfältig verbergen möchte.

Terézia Mora wollte mit dieser Figur nicht den Fremdling als armes Opfer der Gesellschaft ins Klischeebild rücken. Sie zeigt ihn als besonderen Menschen mit vielfältigen Möglichkeiten, als einen, der unentwegt Glück hat, der geliebt wird, der aber auch immer wieder in gewalttätige Situationen verwickelt wird. Seine träumerische Stille, seine Friedfertigkeit, seine Duldsamkeit, machen ihn doch zu einem positiven Helden. Zugrunde geht er weniger an der Welt, als an sich selbst: an seiner Angst, seiner Scham, seiner Unberührbarkeit. Abel Nema ist sich selbst ein Fremder. Das ist die Pointe. Doch wer ihn kennen gelernt hat, vergisst ihn nie wieder.

Terézia Mora: „Alle Tage“. Luchterhand, München 2004. 400 Seiten, 22,50 Euro