piwik no script img

Archiv-Artikel

Utopie einer Mädchenliebe

Der schwierige Prozess des Erinnerns: Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison erzählt in „Liebe“ die tragische, fast hundert Jahre andauernde Geschichte zweier Frauen

Toni Morrisons Heldinnen Christine und Heed sind größer als das Leben selbst

Heed ist alt und gebrechlich, duftet aber noch immer nach kleinem Mädchen, „nach Grasflecken und Fell“. Sich aber beim häufigen Baden helfen zu lassen, davor schreckt sie zurück: Sie hat Angst, ihr „Hautgedächtnis“ mit den erotischen Erinnerungen zu schwächen, die eine Pflegerin haben könnte. Auch Christine, Heeds Hausgenossin, isst noch immer mit dem Silberlöffel, den sie als Kind geschenkt bekam, um das selbst gemachte Eis von damals nicht zu vergessen. Obwohl beide nicht in der Gegenwart leben können, gelingt es ihnen nur mühsam, das Verdrängte, das sie trennt wie verbindet, zu umzingeln und zu stellen.

Toni Morrisons neuer Roman „Liebe“ ist ein Buch, das sich ganz um den schwierigen Prozess des Erinnerns dreht – im wörtlichen Sinne, da es den spiralenförmigen Bewegungen von Erinnerungen folgt, die stärker sind als Erlebnisse, dem Vergessen als Überlebensstrategie und dem erlösenden Gefühl, das sich trotzdem einstellt, wenn man auch dem Unerträglichsten ins Auge schaut. Mit geschickten Enthüllungstaktiken und Spiegelungen aus der Perspektive überlebender und toter Beteiligter, mit kniffligen Rückblenden und Erinnerungen der Erzählerin L., einer Stimme aus dem Off, erzählt Toni Morrison die tragische, fast hundert Jahre dauernde Geschichte der Frauen von und um Bill Cosey, einem Sozialaufsteiger, der im Süden der USA ein luxuriöses, erfolgreiches Strandhotel betrieb, in dem er jedem Gast „die schönstmögliche schöne Zeit“ versprach. Als es in den schwarzen Bürgerrechtsbewegungen nicht mehr nur um schöne Zeiten ging, lief das Hotel nicht mehr. Es wird berichtet, wie Bill Cosey früh seine erste Frau verlor, wie später auch sein Sohn starb, wie er das Hotel herunterwirtschaftete, und wie er dann auch noch die beste Freundin seiner Enkelin Christine heiratete: die elfjährige Heed.

Nur langsam tastet man sich zum Geheimnis vor, das Christine und Heed heute zusammenschweißt. Da ist die unüberbrückbare Kluft zwischen Mann und Frau, zwischen Arm und Reich und Schwarz und Weiß, das Grundthema, das sich durch alle Bücher Toni Morrisons zieht. Obwohl Bill Cosey immer von allen Frauen begehrt wurde und Heed noch heute stolz ist, dass er ausgerechnet sie aus dem Slum zog, nagt an ihr, wie er über sie verfügte. Christine dagegen kommt nicht darüber hinweg, dass sie verstoßen wurde, als sie die Entscheidung ihres Großvaters anfocht – und dass jetzt nicht sie, sondern ein Mädchen aus der Gosse alles erben soll. Schließlich kommen beide nicht mit ihrer Isolation zurecht – dass sie zu keiner der schwarzen Villages gehören, für die Toni Morrison trotz Pulitzer- und Nobelpreis bevorzugt schreibt. Nicht an diesem Ort, von einem Mann erbaut, der die Weißen mit seinem Geld nervös machte und die einheimischen, die armen Schwarzen verärgerte, weil er sie nur ungern in seinem Hotel sah.

Doch verblasst all dieser Hass gegen den wichtigsten Grund für die Nähe zwischen Christine und Heed: Die beiden waren verliebt, ehe Bill Cosey sie auseinander brachte, und ihre Kinderliebe überstrahlte alle anderen Lieben, die in diesem traurigen Roman auch auftauchen. Sie ist erhabener als die der Nachbarn, dem alten Ehepaar, sie ist schöner als die der gefräßigen Junior, der Sekretärin Heeds, sie ist gar reiner als die fürsorgliche Liebe der L., die einst Köchin war im Strandhotel, sich zu Lebzeiten zwischen die Streitenden stellte und noch nach ihrem Tod, als erzählender guter Geist, vermittelt.

„Sie lachten gemeinsam, bis ihnen der Magen weh tat, sie hatten eine Geheimsprache und wenn sie im gleichen Bett schliefen, wussten sie, dass die eine genau das Gleiche träumte wie die andere.“ Die hier beschriebene Mädchenliebe ist utopisch, weil sie noch nichts weiß von Standesunterschieden, Rassen- und Geschlechterhass. Diese Liebe ist so überirdisch, dass sie den ganzen Roman in Bewegung hält, dass sie ihn davor schützt, in eine larmoyante Opfergeschichte mit einem großen Schuldigen in der Hauptrolle zu kippen. Am Ende, als die beiden endlich in ihrer Vergangenheit angelangt sind, erzählen sie sich: „Wir hätten unser Leben Hand in Hand verbringen können statt überall den großen Daddy zu suchen.“ – „Er war überall. Und nirgends.“ – „Von uns erfunden?“ – „Er hat sich selbst erfunden.“ – „Wir müssen mitgeholfen haben.“

Wem das zu gefühlig ist, der ist zu bedauern. Denn lässt man sie einmal an sich heran, diese Figuren von Morrison, die größer sind als das Leben, der wird mit ihnen wunderbar abtauchen können und es eine Weile vergessen, dieses eigene Dasein, so klein, wie es plötzlich erscheint.

SUSANNE MESSMER

Toni Morrison: „Liebe“. Aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz, Rowohlt, Reinbek 2004. 281 Seiten, 19,90 Euro