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Archiv-Artikel

SPD unter Kulturschock

BERLIN taz ■ Wo, bitte, fragt Lale Akgün, „ist das Problem mit Leidenschaft?“ Die SPD-Abgeordnete und Europa-Politikerin war mit dem Kanzler im Februar in der Türkei, „und ich glaube, er klingt so leidenschaftlich, weil er sich entschieden hat.“

Nun gibt es aber in der SPD-Fraktion Leute, denen die Leidenschaftlichkeit, mit der Gerhard Schröder und auch Außenminister Joschka Fischer für einen EU-Beitritt der Türkei plädieren, zu weit geht. „Sie wirken, als sei das nicht Sache des Kopfes, sondern des Herzens“, sagt der seinerseits sehr leidenschaftliche Europa-Politiker Michael Roth.

Die Fraktion habe schon lange und mit gewichtigen Pros und Contras über die Beitrittsverhandlungen diskutiert. Akgün und Roth gehören zu den Befürwortern – andere, wie der Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose, zu den Skeptikern. Doch auch die Befürworter sind sich einig, dass die Beitrittsverhandlungen „ergebnisoffen“ sein müssen.

Zwar haben in der Geschichte der EU bislang alle Verhandlungen zu Beitritten geführt. Doch die Türkei gilt eben als besonderer Fall. Deshalb „nehme ich Kanzler und Außenminister beim Wort, dass sie die Offenheit auch sehen“, erklärt die SPD-Europapolitikerin Angelica Schwall-Düren. Der Fraktionsvorstand werde voraussichtlich am 18. Oktober das Türkei-Thema noch einmal auswerten. Am 26. Oktober soll es auf die Tagesordnung der Fraktion.

Die Betonung der Note „Ergebnisoffenheit“ darf denn auch als Zweck des kleinen Aufstands der Innen- und Wirtschaftspolitiker Dieter Wiefelspütz und Rainer Wend gelten. Diese behaupteten am Wochenende, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei seien nicht basisverträglich. Damit brachen sie den Koalitionskonsens, wonach CDU-Chefin Angela Merkel mit ihrer Idee einer bloß „privilegierten Partnerschaft“ für die Türkei in die Rassistenecke gehört. Rot-Grün dagegen will aufgeschlossen sein für ein Europa mit 70 Millionen demokratischen Muslimen.

Diese wahlkampftaugliche Vereinfachung der Fronten kritisiert auch Roth. Wends und Wiefelspütz’ Argument, „meinen Wählern ist unwohl“, sei jedoch „hanebüchen“. Überzeugungsarbeit sei immer notwendig. „Sonst sollen solche Kollegen doch bitte auch die Finger etwa von Hartz IV lassen.“

Die veröffentlichte Kritik sei aber auch ein Symptom für den „lange gewachsenen Unmut“ darüber, dass weitreichende Entscheidungen zum Thema Europa irgendwie immer über Deutschland hereinzubrechen scheinen. Roth erklärt das Phänomen mit einem Wechselspiel aus „Unbehagen“ und „Ignoranz“: „Die politische Elite hat Europa nicht auf dem Schirm.“

Dies bestätigt auch Akgün: „Diskutiert haben wir seit Jahren, und zwar bis in die Puppen“, sagt sie. „Aber Brüssel und Straßburg sind eben nicht vor der Haustür.“ Und so werde auch beim Thema Türkei-Beitritt „plötzlich klar, dass in Berlin gar nichts mehr entschieden wird“. Das kränkt die Politiker, die eine solche Politik aber zu Haus vertreten müssen. „Der Zuwachs an europäischer Kompetenz ist zu schnell über uns gekommen – wie ein Kulturschock“, sagt Akgün. ULRIKE WINKELMANN