piwik no script img

Archiv-Artikel

Die schon wieder!

Waltraud Endrulat und Ursula Kriese sind Bürgerinnen, wie sie Politiker wünschen: sie haben Mut. Sie haben Ideen. Sie wachsen über sich hinaus. Jetzt muss man sie nur noch lassen

VON NADJA KLINGER

Jedes Mal, wenn Waltraud Endrulat ihren Namen unter einen Brief setzt, ergeben sich für die Zukunft verschiedene Aussichten. Eine ist, dass jemand den Namen liest und stöhnt: „Oh, nein, die schon wieder!“ Es macht keinen Spaß, anderen Leuten auf den Wecker zu fallen. Aber wenn sich dadurch eine Chance ergibt …

Waltraud Endrulat ist Außenhandelskauffrau. Sie hat in der Hauptstadt der DDR eine große Einzelhandelsfiliale geleitet. Nach der Wende hat sie einen Handwerksbetrieb gegründet und gemanagt. Sie hat Jobs gefunden, verloren, war beim Sozialamt, hat sich nie klein kriegen, sondern immer wieder was einfallen lassen. Sie ist Mitte 50. Bedrohlich breit baut sich das Arbeitsamt vor ihr auf und versperrt den Weg.

Ein Atemzug Hoffnung

Eine andere Aussicht ist, dass ihr Brief ewig auf einem Schreibtisch liegt. Im Bezirksamt Prenzlauer Berg, im Berliner Senat. In diesem Fall würden Waltraud Endrulat und Ursula Kriese dasitzen und warten. Sie würden an ihren Zigaretten ziehen, auf den Zungen so was wie Zuversicht schmecken. Sekunden später, beim Auspusten, hätten sie schon keine Hoffnung mehr.

Die dritte Aussicht ist ein Antwortbrief. Das ist die beste Aussicht, sie kann aber auch eine Enttäuschung werden. Bislang waren alle Antwortbriefe enttäuschend. Ursula Kriese sieht man es mitunter an. Sie hat ein renommiertes, stets ausgebuchtes Restaurant geleitet, das die Einführung der Westmark nicht lange überlebt hat. Sie hat ein Dienstleistungsunternehmen gegründet. Sie hat es stets verstanden, etwas auf die Beine zu stellen. Jetzt ist sie Mitte 50 und versteht die Welt nicht mehr.

Jahrelang hat sie eine Boutique im Prenzlauer Berg gehabt. Sie hatte ungewöhnliche Kunden. Die waren arbeitslos, Sozialhilfeempfänger, Mütter mit Babys, freischaffende Künstler, Journalisten, Rentner. Sie setzten sich hin und blieben. Sie erzählten. Wie es ihnen ging. Dass sie nichts zu tun hatten. Dass das Kinderkriegen sie aus der Gesellschaft katapultierte. Dass arm sein allein sein bedeutet. Sie gaben sich Ratschläge, klagten, fluchten, witzelten, tranken den Kaffee, den Ursula Kriese kochte. Es war viel los im Laden, aber er lief nicht. Die Kunden hatten kein Geld. Sie kamen nicht, um zu kaufen.

Nebenan wohnen Fremde

Seit 2003 werden im Prenzlauer Berg so viele Kinder wie nirgends in Berlin geboren. Viele Mütter sind allein erziehend. Der Stadtteil rangiert in der Sozialstatistik weit unten, obwohl 46 Prozent der Leute Hoch- und Fachschulabschlüsse haben, ein Viertel Akademiker sind. Altbauten wurden saniert, Mieten sind hochgeschossen. Vor allem Familien mit Kindern sind weggezogen. Ältere Menschen, deren Verträge geschützt waren, blieben in Mietshäusern zurück. Zu ihnen gesellten sich finanzkräftige Nachbarn von weit her, die gute Jobs hatten. Fremde. Über die Hälfte der Leute im Prenzlauer Berg leben allein, zwölf Prozent unterm Existenzminimum von 500 Euro.

„Ich bin pleite“, hat Ursula Kriese schließlich zu ihren Kunden gesagt. Wo sie nun hinsollten?, fragten die. Mit wem sie reden sollten? Wo sie die Kinder lassen könnten, wenn sie aufs Amt oder zum Arzt müssten? Mein Laden sollte den Leuten das anbieten, was sie wirklich brauchen, hat Ursula Kriese gedacht, während sie die Kleider in Kisten warf. Ihre alte Schulfreundin Waltraud Endrulat hat sofort gerechnet. Das Ergebnis war: Ein Kiezzentrum würde Zulauf bringen, für sie beide genügend Arbeit, aber keinen Gewinn. Es wäre dran an den sozialen Brennpunkten, aber weit davon entfernt, die Ladenmiete und Einkommen zu erbringen.

Eine Idee, wenn sie wirklich gut ist, besteht auf ihrer Anwesenheit. Sie hockt sich in den Laden, in dem eben noch Kleider hingen, und will ein Laden für die Leute sein. Waltraud Endrulat und Ursula Kriese haben sich Geld geborgt. Sie haben Möbel, Geschirr, Spielzeug gekauft, Wohnzimmer und Kinderzimmer eingerichtet. Zur Eröffnung des Kiezladens im Februar kamen über 100 Leute. Seitdem backen sie jeden Tag Kuchen, verkaufen für wenig Geld Getränke. Sie spielen den Kindern Märchen vor. Die Künstler, Journalisten, Rentner, die sich im Laden bislang nur aufgehalten und geredet hatten, erfüllen ihn jetzt mit Leben. Es gibt Musikabende, Lesungen, Filmabende. Ein Spanienkämpfer erzählt aus seinem Leben. Es wird getanzt. Man kann schreiben, Theater spielen, Spanisch, Russisch lernen, man feiert Geburtstage, Taufen.

Die Idee vom Kiezladen machte sich bald unersetzbar. Leute brachten Formulare zum Arbeitslosengeld II. Sie brachten Unterlagen zur Sozialhilfe, Briefe vom Vermieter, Papier, an dem sie allein verzweifelten. Im Laden war stets jemand, der half. Jemand, der einen vielleicht aufs Amt begleitete.

Nur ein Satz wäre nötig

Es gab nur ein einziges Problem: Die Idee lebte auf Kosten von Waltraud Endrulat und Ursula Kriese. Sie brauchten Geld für die Miete und mindestens zwei ABM-Stellen. Eigentlich hätten ihre Anträge an Stadt und Bezirk nur einen Satz nötig gehabt: Schauen Sie sich den Laden an! Um jedoch ernst genommen zu werden, sollten sie sich seitenlang erklären. Ihr Projekt müsse was Besonderes sein, hat man ihnen gesagt.

Also haben sie es „Projekt intergenerationelle Begegnungen“ genannt. Keiner kann die Worte aussprechen, ohne zu stolpern. Sie passen zu dem Weg, den die gute Idee vom Kiezladen seit Februar 2004 genommen hat. Der Weg kann sie zu Fall bringen. Und wenn sie erst mal liegt, kommt sie unter die Räder.

ABM-Stellen für 2004 gab es im Februar keine mehr. Im Sommer sollten Reststellen verteilt werden, das fiel dann aus, weil die Agenturen sich auf Hartz IV einstellten. Sie sollten bis 2005 warten, hat man Endrulat und Kriese gesagt. Und hinzugefügt, dass man auch nicht wisse, wie es dann weitergeht.

Der Berliner Senat hat die beiden Frauen ans Bezirksamt verwiesen. Im Bezirk haben sämtliche Ämter behauptet, nicht zuständig zu sein. Die Frauen haben Widerspruch eingelegt. Niemand hat reagiert. Sie haben sich Gesprächstermine besorgt. Man hat nach ihrer Lobby gefragt. „Wenn man einen Laden hat für Leute, die arm dran sind, hält sich das mit der Lobby in Grenzen“, hat Waltraud Endrulat geantwortet.

„Unser Laden zu den Letten?“

Man hat ihnen EU-Gelder empfohlen. Ein Konsortium sollten sie gründen. Künstler sollten da drin rein, es sollte ein Länder übergreifendes Projekt werden, übern Kontinent transferieren, nach Polen, Estland, Lettland. Das war so ein Moment, an dem Ursula Kriese die Welt nicht mehr verstand. „Unser Kiezladen soll zu den Letten?“, hat sie gefragt. „Machen wir hier keine gute Arbeit?“

Vom Kulturamt haben sie einmal eine kleine Summe bekommen. Sie bräuchten monatlich 800 Euro. Eine Bezirkspolitikerin hat den Laden besucht. Sie meinte, so schön wie hier hätten es viele Gäste bestimmt nicht zu Hause. Sie hat Kriese und Endrulat gelobt: „Ihr Powerfrauen macht das schon!“

Wenn ihnen der Laden über den Kopf wächst, bekommen sie Aushilfskräfte vom Sozialamt. Dort wird ihnen quasi der rote Teppich ausgerollt. Sie gelten als Arbeitgeber. Sie leben von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Der Laden läuft ehrenamtlich, über 60 Stunden die Woche. Warum man nicht einfach ihre Arbeit zu Jobs machen könne?, haben sie gefragt. Die Antwort war: „Das ist unüblich.“

Im Sommer hat Bundespräsident Horst Köhler seine Antrittsrede gehalten. Es gab kaum Erfreuliches über Deutschland zu sagen, also ging es darum, was sich im Land ändern sollte. „Man braucht Ideen“, sagte Köhler. Er wünschte sich mehr Spielraum für deren Verwirklichung auf kommunaler Ebene. „Menschen mit Mut, Ideen und Verantwortungsbewusstsein fallen nicht vom Himmel“, sagte er. Waltraud Endrulat sagte zu ihrer alten Schulfreundin: „Uschi, der meint uns!“

Im Computer ein Virus

Einen Zeitungsartikel nach dem anderen schneidet sie aus. Unterstreicht die Worte des Kanzlers, mit denen er über die Bedeutung der Kinder in der Gesellschaft spricht. Sie zitiert die Bundesfamilienministerin, die Existenzbedingungen für Familien verbessern will. Sie beobachtet, wie Gerhard Schröder Preisträger des Bundeswettbewerbs für soziale Projekte ehrt. Die Bundesregierung hat ermittelt, wie sich die Deutschen für ihre Mitmenschen engagieren. In der Statistik landete Berlin mit einem Anteil von nur 24 Prozent engagierter Bürger ganz hinten. „Berücksichtigen Sie bitte, dass wir mit unserem Laden dem Wunsch der Politiker entsprechen, Engagement zu zeigen!“, schreibt Waltraud Endrulat in ihren Briefen.

Ihr Hausherr hat ihnen Mieten erlassen und gemindert. In goldenen Zeiten würde er sie mehr unterstützen. Aber die Zeiten sind nur hart. Die Bewag haben sie um eine Stromspende gebeten. Man sagte ihnen: „Günstiger als unser Tarif geht's nicht.“ Sie warten die zweite Mahnung ab, ehe sie Strom zahlen. Telefonieren kaum. Gehen nur Sekunden online. Im Computer ist ein Virus. Ihre Gäste haben Unterschriften für den Kiezladen gesammelt. Sie wollen monatlich Geld für die Miete geben. Die meisten leben von Sozialhilfe.

Nichts zu verschenken

Endrulat und Kriese haben Zeitungsverlage um Freiabos gebeten. Sie bekommen nun täglich den Tagesspiegel. Gruner & Jahr hat ein Heft Gala, einmal Geo und Living at home geschickt. Die Ostberliner Getränkefirma „Spreequell“ haben sie um Sonnenschirme und Stühle gebeten. Man hätte nichts zu verschenken, wurde mitgeteilt.

Ein Mann von der Gema ist inkognito in den Kiezladen gekommen. Dann kam ein Brief. Für den CD-Player hinterm Tresen sollte umgehend Jahresgebühr entrichtet werden. Die beiden Frauen haben die Hälfte gezahlt und geschrieben, dass sie ein Jahr vielleicht gar nicht leben. Dass sie laufende Kosten kaum begleichen und nichts vorschießen könnten. Tage später klingelte das Telefon. „Weil Sie kein Geld haben, schieben Sie mir den schwarzen Peter zu?“, fragte der Gema-Mann.

Schwarzer Peter ist das Spiel, bei dem niemand gewinnt. Es gibt kein Geld. In der Stadt nicht, auf keinem Amt. Weit und breit geht es darum, sich zu beschränken. Es geht darum, kaputtzumachen. Einen Kiezladen, das Leben im Stadtbezirk. Zum ersten Mal hat Endrulat am Telefon gebrüllt. Dann hat sie wieder einen Brief geschrieben. Nein, die schon wieder!, würde man stöhnen. Sie schrieb: „Mit freundlichen Grüßen!“