: Erfrischung in heißen Vulkanquellen
Auf der Landstraße herrscht das Gesetz des Stärkeren. Doch auf den staubigen Ripio-Pisten sind die Autofahrer auch nicht zahmer – trotz der großen Löcher längs und quer der Fahrbahn, manchmal so groß wie Kinderbadewannen. Allein mit dem Fahrrad durch das Seengebiet Los Lagos in Chiles Süden
Chile misst von Nord nach Süd 4.300 km, ist im Durchschnitt aber nur 180 km breit. Die Landschaft ist einzigartig: im Westen der Pazifik, im Osten die bis zu 7.000 Meter hohe Kette der Anden, dazwischen Vulkane, Urwälder, Wüsten, Fjorde, Seen, Flüsse und Eis. Die Hauptverkehrsmittel sind Autos und Busse, die Streckenanbindung ist sehr gut. Fahrradtourismus ist unterentwickelt, aber in größeren Orten gibt es Fahrradläden. Bei längeren Radtouren empfiehlt es sich, sein eigenes Rad mitzunehmen, auch wenn der Transport im Flugzeug mit bis zu 300 Euro Aufpreis (hin und zurück) teuer ist. Aufgrund der Straßenverhältnisse ist ein Mountainbike ratsam. Ersatzmantel, Schläuche und Helm nicht vergessen. Viele Überlandbusse nehmen auch Räder mit.
VON PLUTONIA PLARRE
Die Klamotten sind in zwei wasserdichten Radtaschen auf dem Gepäckständer des Mountainbikes verstaut. Schaltung und Bremsen sind überholt, Schläuche und Mäntel nagelneu. Ein Zelt habe ich nicht eingepackt. Chile ist gut mit preisgünstigen Hotels ausgestattet. Ich bin allein unterwegs und habe nicht vor, auf halber Strecke im Urwald zu übernachten. „Pass auf die Pferdebremsen auf – und auf die Hunde“, rät mir ein Freund, der vor Ort lebt, beim Abschied. „Die beißen Radfahrern gern ins Bein.“
Drei Wochen sollen genügen, um mit dem Rad das Seengebiet Los Lagos in Chiles sogenanntem kleinen Süden zu erkunden, auch ein Abstecher nach Argentinen und auf die Insel Chiloé ist geplant. Schon bald zeigt sich: Pferdebremsen kann man totschlagen, wild gewordenen Hunden davonradeln. Aber wie setzt man sich gegen Autofahrer zur Wehr? Wie überall in Südamerika sind Fahrradtouristen in Chile eine verschwindende Minderheit. Es gibt kaum Radwege. Und wenn es doch mal einen gibt, endet er nach kurzer Zeit im Nichts. Auf der chilenischen Landstraße regiert das Gesetz des Stärkeren. Diese Lektion lerne ich schnell.
Über eine geteerte Straße entlang dem Lago Llanquihue geht die Fahrt in Richtung Anden. Es duftet nach Eukalyptus, Pinien und Kuhdung. In der Ferne ertönt der schnatternde Ruf eines Schwarzzügelibis Bandurria. Der Osorno ist zum Greifen nahe. Der schneebedeckte Krater des Vulkans vor tiefblauem Himmel, an seinem Fuße der spiegelglatte See – fast zu schön, um wahr zu sein. Man möchte die Augen nicht von dem Bild lassen, wäre da nicht der Truck, der auf der einspurigen Straße zum Überholen eines anderen Trucks ansetzt und geradewegs auf einen zurast – als wäre man gar nicht da. In letzter Sekunde gelingt es mir, den Lenker Richtung Straßengraben herumzureißen. Ein scharfer Windsog, und die Trucks sind vorbei. Glück gehabt. Es bleibt nicht das einzige Erlebnis dieser Art auf meiner Reise.
Kann nur besser werden, denke ich. Bald bist du in den Bergen. Dort sind die Straßen nicht asphaltiert. Ripio heißt das auf Spanisch. Übersetzen könnte man es mit Rumpel- oder Waschbrettpiste. Ripio – das meint alles, was mit Steinen, Sand, Kies, Rillen und Löchern zu tun hat. Löcher längs und quer der Fahrbahn, manchmal so groß wie Kinderbadewannen. Auf Ripio-Pisten, so meine Hoffnung, sind die Autofahrer zahmer. Ein Irrtum, wie sich bald herausstellt.
Der erste Kontakt mit Ripio fühlt sich gut an. Die Piste ist zwar steinig, lässt sich aber gut mit dem Rad nehmen, wenn man sich konzentriert. Auf der Hochebene hinter dem chilenischen Grenzdörfchen Peulla habe ich die Straße für mich allein. Ich passiere eine Alpakaherde, die auf einer Wiese weidet, und einen einsamen Wanderer. Die Strecke führt über einen 1.000 Meter hohen Pass nach Argentinen. Kraftfahrzeuge kommen dort praktisch nicht hin, weil man zuvor über den See Todos los Santos muss und die Fähre keine Autos transportiert. Doch schon bald legt sich die gute Laune. Der Weg steigt steil an, der feste Untergrund verwandelt sich in Sand und Geröll. Das Vorderrad rutscht weg wie auf Schmierseife. Irgendwann bleibt mir nur noch eines: schieben. Stunde um Stunde wuchte ich das Rad nebst Gepäck den Berg hinauf. Hinter jeder Kurve tut sich eine neue auf. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Warum tu ich mir das eigentlich an?
Als ich in Puerto Frías auf der argentinischen Seite ankomme, habe ich für 25 Kilometer sieben Stunden gebraucht. Es wird bereits dunkel. Das letzte Schiff ist längst weg. Auf dem Landweg gibt es kein Weiterkommen. Die einzigen Menschen auf diesem verlassenen Fleckchen Erde sind vier argentinische Grenzpolizisten. Die einzige Behausung ist ihre Polizeistation. Der Chef der Gendarmes verdeutlicht mir, dass ich bei ihnen unmöglich übernachten könne. „Wir sind vier Männer. Es gibt nur einen Raum.“ Warum nur habe ich kein Zelt mitgenommen? Es ist nicht das einzige Mal, dass ich mir diese Frage stelle. Aber stets findet sich eine Lösung.
Die Gendarmes bieten mir an, in einem abgelegenen Zollhäuschen zu übernachten. Die Fenster an der Rückseite sind kaputt, es gibt kein Licht. „Nachts wird es hier ganz schön dunkel“, warnt mich der Chef. In einer Nische rolle ich mich in meinen Schlafsack ein. Die Taschenlampe und das Taschenmesser sind griffbereit. Es ist totenstill. Ab und zu knackt es laut. Ich bin hundemüde. Aber erst weit nach Mitternacht, als es zu regnen beginnt, schlafe ich endlich ein.
Später erfahre ich, dass Che Guevara 1952 denselben Pass über die Anden genommen hat, als er mit seinem Freund Alberto Granado durch Lateinamerika reiste. Nur dass die beiden in umgekehrter Richtung gefahren sind und mit einem Motorrad unterwegs waren. Warum habe ich das nicht gewusst, als ich mich den Berg hochquälte?
Um nicht missverstanden zu werden: Ripio-Pisten haben durchaus ihren Reiz. Der Engländer Bob, ein 63-jähriger Sozialarbeiter aus Yorkshire, der mit seinem 24-jährigen Sohn mit dem Velo auf Tour ist, beschreibt es so: „You never know, what’s coming next.“ Man wächst an der Herausforderung. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, da machen einem die Schotterpisten nichts mehr aus. So ist es auch mit dem ständigen Bergauf und Bergab. „It makes you mentally strong“, sagt die 32-jährige Amerikanerin Laura, die mit ihrem Mann durch die Anden radelt.
Je länger man unterwegs ist, umso gelassener erträgt man die Widrigkeiten. „Heute wieder den ganzen Tag Staub geschluckt. Bin schon so grau wie die Bäume und Büsche am Wegesrand“, heißt es im Tagebucheintrag. „Am schlimmsten sind die Busse und Landrover. Die machen sich einen richtigen Spaß draus, so dicht an einem vorbeizubrettern, dass man total eingesaut wird. Aber immer noch besser als Asphaltfahren.“
Ganz allein unterwegs? „Sola?“ Immer wieder werde ich das gefragt, ungläubig bis fassungslos. Radfahrer in Paaren oder Kleingruppen, das kennt man mittlerweile. Auch Männer allein. Aber eine Frau? „Qué nacionalidad?“, lautet die nächste Frage. Aleman. Meist scheint es, als verwundere meine Herkunft nicht. Ob das mit der Besiedelungsgeschichte des Landes zu tun hat? Mitte des 19. Jahrhunderts sind zahlreiche Deutsche nach Chile eingewandert. Rund 300.000 Chilenen stammen von Deutschen ab. Viele leben im „kleinen Süden“. Fast jeder dort kennt einen Deutschchilenen. Besonders am Lago Llanquihue, wo auf Schildern entlang der Straße „Kuchen“ feilgeboten wird und Hotels und Restaurants Namen haben wie „Frau Holle“ und „Guten Appetit“.
Am Lago Llanquihue haben die deutschen Pioniere des vorletzten Jahrhunderts den Dschungel gerodet und das Land urbar gemacht. Wie hart die Bedingungen waren, kann man im Museum Aleman in Frutillar nachlesen, das an meiner Route liegt. Beschrieben wird die Ankunft mehrerer Familien um 1850. „Man brach mit 32 der couragiertesten Männer vom Hafen auf, einer hinter dem anderen begab sich auf den dunklen Pfad, geformt aus feuchtem, unglaublich dichtem Schlickwerk, dessen schlammiger Grund aus Wurzeln, Baumstämmen und vermoderten Blättern bestand. Es schien, als wandere jeder allein durch den Urwald. Oft machte man halt, um durchzuzählen. Nach einem halbstündigen, sehr ermüdenden Marsch wurde, zunächst mit Verwunderung, dann mit Entsetzen festgestellt, dass zwei Familienväter fehlten. Man rief nach ihnen, man entzündete Feuer – alles umsonst. Die zwei Unglücklichen blieben für immer verschwunden …“
Ohne Panne trägt mich mein Rad durch die Lande – vorbei an türkisblauen Seen, durch tiefgrüne Nationalparks, aus denen 70 Meter hohe Urwaldriesen ragen. Ich bewältige Strecken, die nur für Jeeps mit Allradantrieb empfohlen sind. Einmal reißt eine Radtasche ab, aber das Problem lässt sich lösen. Ich bade in heißen Quellen, gespeist durch den Vulkan Villarrica, der nach wie vor aktiv ist. Die Wanderung zum Kraterrand fällt allerdings wegen Regens ins Wasser. Ich treffe Menschen, die mit ihrem Rad um die halbe Welt gefahren sind. Die evangelische Glaubensgemeinschaft Palabra de Vida beherbergt mich in einem Blockhaus. Bei Speis und Trank versucht man mich zu bekehren. Eine alte Frau der Mapuche-Indianer bietet mir für eine Nacht ein Zelt in ihrem Garten an. Wo immer ich hinkomme, erfahre ich immense Freundlichkeit und Respekt.
Den Schlusspunkt der Reise bildet ein Abstecher nach Chiloé. Die Insel ist bekannt wegen ihrer schindelgedeckten Holzhäuschen und Kirchen aus spanischer Kolonialzeit. Die Buchten und Fjorde sind ein Vogelparadies. Pelikane schnäbeln im Wasser, man sieht Kormorane, Schwäne mit schwarzen Hälsen, Austernfischer und unendlich viele Möwenarten. Auf einer vorgelagerten Insel brüten Magellan- und Humboldt-Pinguine. Man kann sie gut vom Boot aus beobachten.
Auf der Strecke nach Pumillahue, wo die Boote losfahren, liegt ein totes Pferd auf dem Asphalt. Der Unfall ist am frühen Morgen passiert. Zwei Männer mit blutbefleckten Händen beugen sich über den Leib. Mit Messern schneiden sie riesige Fleischstücke heraus. Auf dem Rücken und auf den Schenkeln klaffen Löcher. Das Fleisch landet in einem Eimer. „Für die Hunde“, sagen sie. Das Pferd sei mit einem Landrover kollidiert. Die Fahrerin blieb unbeschadet. So sind sie, die Gesetze der Straße.