: Die Bleich-Leichen
Die Berufskrankheit: Die Silikose (Staublungenkrankheit) ist die wohl älteste Gewerbekrankheit und ist eng mit der Entstehung und Entwicklung des Gesteins- und Kohlebergbaus verknüpft. Schon Paracelsus, bedeutendster Arzt des 16. Jahrhunderts, berichtet in seinen Schriften von der „Bergsucht und anderen Bergkrankheiten“ – ohne damals freilich in der Lage gewesen zu sein, die Staublungenkrankheit der Betroffenen sicher zu erkennen. Dies wurde erst mit den 1895 entdeckten Röntgenstrahlen möglich. 1929 erfolgte in Deutschland die Aufnahme der schweren Staublungenkrankheit in die Liste der Berufskrankheiten.
Das Krankheitsbild: Die Lungenkrankheit (siehe Röntgenbild) wird durch Inhalation und Ablagerung von mineralischem, insbesondere quarzhaltigem Staub verursacht. Der Staub sammelt sich vor allem in den Lungenbläschen an, die den lebensnotwendigen Gasaustausch sichern. Es kommt in der Lunge zur Bildung von knotenartigen Bindegewebeneubildungen. Diese führen zu Vernarbungen der Lunge, Luftnot, Husten, Verschleimung, chronischer Bronchitis – und später zum Tod durch Ersticken. Eine Staublungenkrankheit kann auch dann noch zum Ausbruch kommen, wenn die Arbeit im Staubmilieu schon lange zurückliegt. TAZ
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Der Mann sieht müde aus. Er hat schwarze Ringe unter den Augen. Ein Schulterzucken auf die Frage, ob er einen harten Tag hinter sich habe. „Ja, natürlich“, antwortet Professor Zeki Kilicaslan. „Erst vorhin musste ich wieder eine Familie mit einem todkranken Jungen wegschicken zu einem Hospital für Lungenkranke. Damit er dort offiziell registriert wird. Mehr konnte ich nicht tun“, sagt er.
Zeki Kilicaslan ist einer der führenden Lungenspezialisten der Türkei und arbeitet an der Medizinischen Fakultät des Istanbuler Universitätskrankenhauses. Die Krankenhausanlage im Zentrum Istanbuls zählt zu den besten Adressen des türkischen Gesundheitssystems. Doch Kilicaslan leidet darunter, dass er den meisten seiner Patienten nicht helfen kann. Er ist einer der wenigen Mediziner des Landes, die gegen eine Katastrophe ankämpfen, die von offizieller Seite ignoriert wird.
Es geht um junge Männer, die an einer Lungenkrankheit sterben. Davon betroffen sind nach Schätzung von Kilicaslan bis zu 10.000 Menschen. Seine Kollegin Elif Reyhan Han von der Klinik für Berufskrankheiten in Ankara geht sogar von 20.000 Fällen aus. Die Betroffenen haben eines gemeinsam: Sie haben sich in den letzten Jahren in kleinen, meist illegalen Läden anheuern lassen, um dort mit einem Sandstrahlgerät fabrikneue Jeans auszubleichen. Das Ergebnis: „stone-washed Jeans“, die nicht nur cool aussehen, sondern sich beim Tragen auch „softer“ anfühlen.
Einer der Patienten von Zeki Kilicaslan ist Mehmet Bekir Basak. Der 38-Jährige lebt mit seiner Familie in einer Kellerwohnung in Gaziosmanpasa, einem der Armenvororte Istanbuls. Basak stammt aus einem kurdischen Dorf bei Bitlis, tief im Südosten der Türkei. Vor 15 Jahren verließ er seine Heimat und ging in den Westen. Erst nach Izmir, ein paar Jahre später nach Istanbul. Mehmet Bekir Basak fällt es schwer, zu reden. Nach jedem Satz hustet er heftig. Nach ein paar Sätzen braucht er eine Pause. Um ihn herum in der winzigen Zweizimmerwohnung drängen sich vier Kinder, das älteste Mädchen höchstens sechs, die Kleinste gerade ein Jahr alt. Später erzählt Basak, dass er noch drei ältere Kinder hat. Der älteste Sohn muss mit 16 Jahren jetzt die Familie ernähren, weil sein Vater nicht mehr kann. Der hat es lange ausgehalten am Sandstrahler, fast acht Jahre. Nach sechs Jahren wusste er bereits, dass seine Lungen erkrankt waren. Doch wegen der Kinder arbeitete er weiter. Für rund 300 Euro im Monat.
Mehmet Bekir Basaks Arbeitsplatz war ein Kellerverlies in Gaziosmanpasa, wo sie mit 10 bis 15 Leuten gearbeitet haben. Ohne Arbeitsvertrag, ohne Versicherung, das Geld gab’s am Ende des Monats bar auf die Hand. Die Klitsche existiert nicht mehr, der damalige Patron ist verschwunden. Dass die Arbeit am Sandstrahler gefährlich ist, hat den Arbeitern niemand gesagt.
Dabei ist das Risiko enorm. Unter dem hohen Druck aus dem Sandstrahler, erklärt Kilicaslan, werden Siliziumpartikel freigesetzt, die an der Luft auf Sauerstoff reagieren und sich in Quarz verwandeln. Der setzt sich in der Lunge fest und führt dazu, dass das Gewebe vernarbt und sich zusammenzieht. Die Folgen davon sind Atemnot, schwerer Husten, Erbrechen und zuletzt der Tod durch Ersticken.
Eine Therapie gibt es nicht. Kein Aufenthalt im Sanatorium, keine Medikamente, die etwas nützen würden. Mehmet Bekir Basak muss nach einer halben Stunde mühsamen Gesprächs ein Atemgerät benutzen, um seine Atemwege anzufeuchten. Das schafft nur kurz etwas Erleichterung, heilen kann es nicht. Die einzige Hilfe wäre eine Lungentransplantation. Die aber wurde in der Türkei bislang erst einmal durchgeführt. Für Leute wie Mehmet Bekir Basak wäre sie sowie unbezahlbar. Der Vater von sieben Kindern weiß, dass er wohl nicht mehr lange leben wird.
Zwei seiner Freunde, die mit ihm gearbeitet haben, sind bereits tot. Daten über die Zahl der Erkrankten gibt es nicht. Die meisten jungen Männer, die in einer der Sandstrahlklitschen gearbeitet haben, sind, als sie krank wurden, nicht in Istanbul geblieben, sondern wieder in ihr Dorf zurückgekehrt. Es gibt Dörfer im Osten der Türkei, in denen mehr als 20 todkranke Männer ohne Hoffnung auf Heilung vor sich hin dämmern.
Von den rund 10.000 jungen Männern, die in den vergangen Jahren in den Sandstrahlklitschen gearbeitet haben, wird wohl die Hälfte sterben, schätzt Zeki Kilicaslan. Ob jemand die Krankheit überlebt, sei eine Frage der Gene. In seinem Büro stapeln sich die Krankenakten. Auf seinem Computer hat er den tödlichen Krankheitsverlauf der jungen Männer dokumentiert. „Dass Zwanzigjährige sterben, damit andere zwanzigjährige Jungs gebleichte Jeans kaufen können, ist wirklich deprimierend“, sagt Kilicaslan und schüttelt den Kopf. „Dabei wäre das leicht zu verhindern. Man muss nur die Jeansbehandlung mit Sandstrahlern verbieten und die kleinen illegalen Ateliers schließen.“ Kilicaslan und einige Kollegen fordern dies gegenüber dem Arbeitsministerium. Seit Monaten.
Auch Engin Sedat Kaya von der Textilgewerkschaft Teksif wirft der Regierung vor, dass sie untätig bleibt. „Zwar sind in Istanbul, vor allem nachdem die Sandstrahlerkrankheit zu einem öffentlichen Skandal geworden ist, einige Klitschen geschlossen worden, doch grundsätzlich hat sich nichts geändert“. „Die Regierung“, sagt Kaya, „weigert sich, das Ausmaß des Problems anzuerkennen.“
Die Textilindustrie ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes und erzielt Milliarden im Export. „Alle großen, auch internationalen Jeansmarken lassen in den illegalen Klitschen arbeiten“, meint Kilicaslan. „Natürlich nicht direkt, sondern durch einen Subunternehmer vom Subunternehmer. Das läuft über vier oder fünf Stationen und ist dann kaum mehr nachzuweisen“, sagt er. Auch der Gewerkschafter Engin Sedat Kaya ist überzeugt, dass internationale Textilketten billig ihre Jeans bleichen lassen. Doch der größte Teil sind wohl Markenimitate, die eher auf Grabbeltischen zu finden sind.
Ein Solidaritätskomitee, in dem auch Kilicaslan und der Gewerkschafter engagiert sind, versucht trotzdem, gegen die Jeansfirmen vorzugehen. Ein Anwalt bereitet eine Klage vor, mit der die Jeansproduzenten gezwungen werden sollen, ihre Bücher offenzulegen. Das Komitee hofft auf einen Erfolg, weil der öffentliche Druck wächst. Aufmerksam wurden die Medien im vergangenen Jahr durch einen Brief, den ein betroffener Junge an eine Istanbuler Zeitung geschrieben hatte. In seinem Dorf in Taslicay, hatte er geschrieben, sterben alle jungen Leute, die in den Jeans-Ateliers gearbeitet haben. Allein drei waren im Monat zuvor gestorben. Im März, meldete das Solidaritätskomitee, starb in Taslicay wieder ein Betroffener, der 25-jährige Ruhat Yildirak. 100 weitere junge Männer im Dorf sind noch krank. Niemand weiß, wie viele von ihnen noch sterben werden.
„Neben dem Verbot des Sandstrahlens brauchen wir einen Fonds, der die Kranken wenigstens finanziell ein wenig unterstützt“, sagt Zeki Kilicaslan über die Forderungen des Solidaritätskomitees. Solange Regierung und Industrie sich taub stellen, sammelt das Komitee nun selbst Geld, um wenigstens in den schlimmsten Fällen helfen zu können. Seit der Druck in der Türkei wächst, seien an einigen Orten die Schutzmaßnahmen beim Jeansbleichen verbessert worden, sagt Gewerkschafter Kaya. Doch er hat auch beobachtet: „Viele Patrone gehen jetzt nach Nordafrika. Die tödliche Jeansbleiche wandert nach Marokko weiter.“