Ein Fünftel bleibt der Schule oft fern

Unveröffentlichte Daten aus Untersuchungen zeigen: Schulvermeidung ist kein Randproblem des Bildungswesens, sondern ein Strukturmerkmal. Mädchen wie Jungen schwänzen, auf dem Land und in der Stadt. Meistens laufen sie der Hauptschule davon

Die Hälfte der Schüler (West) schwänzt mindestens einmal im halben Jahr Die Bürokratie setzt die Schulpflicht nicht durch, sondern schließt Kinder aus

von CHRISTIAN FÜLLER
und CHRISTOPH EHMANN

1998 machte sich das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen auf in die Schule. Die Wissenschaftler wollten Gewalt in der Schule untersuchen. Als die Forscher mit ihren Fragebögen in den Klassenzimmern auftauchten, machten sie eine merkwürdige Entdeckung: Ein Großteil ihrer Probanden war nicht da. Sie schwänzten.

Flugs entwickelten die Forscher eine neue Befragung, um über Schulkameraden und Lehrer die Dunkelziffer der Absentisten zu erhellen. Diesmal war das Ergebnis nicht merkwürdig, sondern erschreckend. Zwischen 15 und 18 Prozent der Schüler fehlten regelmäßig. Eine repräsentative Studie aus Mecklenburg-Vorpommern schätzt die Zahl noch höher. Dem Unterricht bleibt demnach keine Randgruppe fern, sondern eine große Minderheit von etwa einem Fünftel.

Bei den 20 Prozent handelt es sich um den ganz normalen Schwund in den Schulbänken. Schwänzer, Aussteiger, Drückeberger – alle haben sie im Detail ein anderes Motiv. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich für die Schule nicht interessieren – und die Schule auch nicht für sie.

In den erforschten Lehranstalten war die massenhafte Abwesenheit ihrer Schützlinge kein Thema. Keine Dokumentation der Fehlzeiten, kaum verbindliche Ansprachen für die Fehlkandidaten, keine speziellen pädagogischen Anreize. Die Lehrer, so zeigte deren Befragung, nehmen das Schwänzen nur sehr eingeschränkt wahr.

Das hängt wohl auch damit zusammen, dass das Land keinen angemessenen Begriff kennt. In der gängigen Bezeichnung des Schwänzens ist eine augenzwinkernde Duldung enthalten. Das Schwänzen stammt wortgeschichtlich aus dem gezielten Versäumen von Kolleg oder Gottesdienst – zum Spaß, um sich mit StudienkollegInnen zu vergnügen. Solcherlei Schwänzer begehen einen kalkulierten Regelverstoß. Dazu gehört für heranwachsende Pennäler das Moment des zeitweisen Aufbegehrens – aber nicht das Risiko, den Anschluss an Lernstoff und Gesellschaft ganz zu verlieren. Den meisten Schulfernbleibern heute dürfte die romantische Note des Schwänzens fremd sein. Das zeigen erneut die empirischen Untersuchungen des Phänomens.

Schulverweigerung findet überall statt – auf dem flachen Land wie in den Großstädten. In Friesland fehlen die Kids genauso häufig im Unterricht wie in München, Hannover oder Hamburg. Die Hälfte der Befragten gab an, mindestens einmal im vergangenen halben Jahr geschwänzt zu haben. Nur Ost und West unterscheiden sich markant: Der Anteil der Dauerschwänzer liegt zwischen Rostock und Leipzig bei rund 5 Prozent. Zwei Drittel der Ostschüler sagen: Wir schwänzen grundsätzlich nicht.

Hans-Joachim Boettge vom Schulamt Magdeburg weiß mehr über Absentisten. Er fand, als er den Schulvermeidern seines Schulbezirks nachforschte, heraus, dass das Problem Jungen wie Mädchen trifft. In den meisten Studien ging man bisher davon aus, dass viele Jungs den Unterricht meiden, aber nur wenige Mädchen. In der Gruppe derer aber, die besonders häufig und lange (vier bis zwölf Monate) nicht in der Schule aufkreuzten, waren bei Boettge 44 Prozent Mädchen zu finden.

Boettges Untersuchung, deren Daten bislang unveröffentlicht sind, macht zudem klar, in welchem Alter Schulvermeidung auftritt. Gerade in den siebten und achten Klassen laufen Teenies der Schule davon. Sie tun es ganz überwiegend in den unteren Schulformen wie der Hauptschule, und sie haben zu einem großen Teil eine ähnliche Schulbiografie hinter sich: Sie sind einmal oder mehrmals sitzen geblieben, sie haben die Schule mehrfach gewechselt, das formelle Ende ihrer Schulkarriere naht – und nun fliehen sie vor dem Absehbaren: dem Schulversagen.

Auch dies ist weder Marginalie noch Zufall. Die Hauptschule weist inzwischen über Jahrzehnte hinweg konstant hohe Zahlen des Misserfolgs aus: Rund zehn Prozent der Schüler verlassen diese niederste deutsche Schulform ohne Abschluss. Das bedeutet: Absentismus und Versagen sind Strukturmerkmale der deutschen Schule.

Die Schule, die sich zu allererst um die Verweigerer und Vermeider kümmern müsste, stellt sich blind für das Problem. Anfragen bei den Schulbürokratien kommen stets zum gleichen Ergebnis: „Schülerfehlzeiten werden in der amtlichen Statistik nicht erhoben“, heißt es 1997 in Baden-Württemberg. „Eine Statistik, die die schuldhaften Schulversäumnise erfasst, gibt es nicht“, so die Auskunft 2001 in Bayern. In anderen Bundesländern ist es bis heute genauso.

Für den Leiter der deutschen Pisa-Studie, in der die OECD 15-Jährige auch nach dem Schwänzen befragte, ist diese strukturelle Nichtbeachtung des Phänomens nicht verwunderlich. Dass die amtliche Vorgabe, den Unterricht zu besuchen, auch eingehalten wird, schreibt Pisa-Koordinator Jürgen Baumert, nähmen zentralistische und hierarchische Bildungsverwaltungen einfach an. Für Baumert ist das die „Grundfiktion der Verwaltung des Bildungswesens“ – und ein Reflex, um den Schulbetrieb vor öffentlicher Rechnungslegung zu schützen.

Die Schule trägt allerdings nicht allein und hauptverantwortlich Schuld am Ausmaß von Schulmüdigkeit und -verweigerung. Aber sie scheint unfähig, den Versäumnissen in den Elternhäusern entgegenzuwirken, die zum Dauerschwänzen führen. Zerbrechende Familien, lange Zeiten der Arbeitslosigkeit und damit einhergehender Verlust planbarer Tagesrhythmen finden sich bei Schulvermeidern öfter als bei denen, die im Unterricht erscheinen.

Die Schulbürokratie freilich verschärft die Situation vieler Absentisten noch. Sie setzt die Schulpflicht nicht etwa durch – sie verkehrt sie in ihr Gegenteil, indem sie Kinder zwangsweise vom Schulbesuch ausschließt. Alle Bundesländer kennen diese Form der Bestrafung von Schülern. Die staatliche Zwangsmaßnahme des Ausschließens ist einerseits widersinnig, wenn man Schule attraktiver machen will. Sie passt sich andererseits nahtlos in die Idee des deutschen Schulaufbaus ein: Wer die Homogenität der Lerngruppe durch ein System verschiedenwertiger Schulformen zu erzielen sucht, findet letztlich auch eine Lösung für denjenigen, der in keine Lerngruppe zu passen scheint – er schließt ihn aus.

Um die Schulverweigerer sollen sich am Ende andere kümmern: die Jugendhilfe und die Sozialpädagogen. Darin liegt allerdings, bei allem Einfallsreichtum und Erfolg, den einzelne Hilfeprojekte erzielen, ein Problem. Die Kluft zwischen Schule und Jugendhilfe ist traditionell so groß, dass gelingende Kooperationen selten sind. Das bedeutet, dass Sozialpädagogik außerhalb der Schule stattfindet – und so, selbst wenn sie erfolgreich mit Schulverweigerern umgeht, ein zweifelhaftes Ergebnis erzielt. Sie entwöhnt Aussteiger von der Möglichkeit auf Schule.

Solange die Kultusverwaltungen sich dem Problem der Schulflucht nicht offensiv stellen und sich auf eine echte Kooperation mit der Jugendhilfe einlassen, wird sich die verzweifelte Situation der großen Minderheit der Absentisten nicht bessern lassen. So lange werden sich auch politische Profiteure wie Jörg Schönbohm (CDU) des Themas bemächtigen, um die deutsche Schwänzerpolitik konsequent zu Ende zu denken. Der Innenminister Brandenburgs will Schwänzern elektronische Fußfesseln anlegen. Das heißt: Sie können der Schule fern bleiben – aber man weiß jederzeit, wo sie gerade sind.