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Archiv-Artikel

Suchen wir noch, oder spielen wir schon?

Berlin und Buenos Aires sind Städte, in denen viel von der Krise die Rede ist. Was aber ist damit gemeint, welche Auswege gibt es? Das diskutieren derzeit Künstler und Urbanisten aus den beiden Partnerstädten unter dem Motto „Die Krise als Labor“

AUS BUENOS AIRES UWE RADA

Dass die Aluminiumfabrik Impa zu einem Symbol der argentinischen Linken wurde, liegt auch an den märchenhaften Geschichten, die sich von ihr erzählen lassen. Gleich hinterm Fabriktor hängt ein Poster, auf dem ist der 65-jährige Horacio Campos neben einer schwarzhaarigen Feuerspuckerin zu sehen. Campos selbst, im Blaumann, hält eine Rohrzange in den Händen, als wäre sie eine Kalaschnikow. Beide stehen Rücken an Rücken, so wie man sich eben durchschlägt beim Guerillakampf in den Bergen. Nur dass Impa nicht in den südamerikanischen Bergen zu Hause ist, sondern in einem Arbeiterstadtteil im Norden von Buenos Aires.

„Lucha, Trabajo, Cultura“ steht in der Calle Querandies 4290 über dem Fabriktor geschrieben – „Kampf, Arbeit, Kultur“. Impa ist eine von 200 Fabriken, die in Argentinien inzwischen von den Arbeitern übernommen wurden. Aus Horacio Campos, dem ehemaligen Schlosser, so will es das Märchen, wurde das Vorstandsmitglied Campos, nur den Blaumann, den behielt er auch in seiner neuen Funktion an.

Was Impa letztlich über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hat, ist aber auch die Nutzung der übrigen Fabrikräume durch Tänzer, Maler und Theaterleute. Campos und die Feuerspuckerin, diese scheinbare Verdopplung macht aber auch die andere, die weniger märchenhafte Geschichte des Kampfes sichtbar – jene der Entleerung, die der Aneignung vorausging: die Geschichte von über 300 der ehemals 500 Arbeiter, die keinen Platz im Kollektiv um Horacio Campos fanden; es ist die der Arbeitsschutzvorschriften, die heute nicht mehr gelten, weil das Überleben wichtiger ist als die Gesundheit. Das Märchen von Impa ist immer beides: die Not und die ihr eigene Tugend, Verlust und Neubeginn.

13.000 Kilometer vom Symbol der argentinischen Linken entfernt steht die Ruine des Palasts der Republik. Ihn mit der besetzten Kulturfabrik in Buenos Aires zu vergleichen verbietet sich beinahe von selbst. Den Beschäftigten drohte nicht der Hunger, als er geschlossen wurde, eine Besetzung wäre von der Polizei ohnehin beendet worden. Gesundheitsvorschriften gelten im reichen Norden mehr als Arbeit, deshalb hat man den Palast auch entkernt, wegen des Asbests.

Und dennoch besteht zwischen der Aluminiumfabrik und dem Palast der Republik eine eigentümliche Ähnlichkeit. Es ist die Ästhetik des leeren Raums, die unsichtbare Bande knüpft, und die Kunst, sich denselben anzueignen. Mit dem Unterschied nur, dass es im Palast der Republik nicht um die Fortsetzung der Produktion geht, sondern um „Zwischennutzung“. Und an der Seite der Künstler kämpfen in Berlin keine Arbeiterhelden wie Horacio Campos, sondern die Unternehmensberater von McKinsey.

Für die Berliner Kuratorin Anne Huffschmid waren diese eigentümlichen Ähnlichkeiten dennoch Anlass, einen Bogen vom Río de la Plata an die Spree zu schlagen. Unter dem Motto „Die Krise als Labor“ hatte sie zwei Tage lang Berliner Künstler, Aktivisten und Urbanisten nach Buenos Aires eingeladen, um mit ihren argentinischen Kollegen nach Gemeinsamkeiten im Umgang mit der allgegenwärtigen Krise zu suchen. Was entsteht Neues und wann? Welchem Verlust folgt welcher Neubeginn? In welcher Weise wird der großen Zäsuren gedacht, die die Geschichte der beiden Partnerstädte begleiten – die der Militärdiktatur und des Staatsbankrotts in Buenos Aires, die des Nationalsozialismus und der Wiedervereinigung in Berlin?

Schon bei der Vorstellung der nationalen Gedenkstätte, die an die Militärdiktatur erinnert, wurde deutlich, dass die politische Wende von 2001 in Argentinien auch eine neue Radikalität hervorgebracht hat. Nicht an der Plaza de Mayo, an der die Mütter ans Verschwinden ihrer Söhne und Töchter erinnert haben, wird diese Gedenkstätte entstehen, sondern in den Folterkellern der Marineschule Esma, am Ort der Täter also. In Berlin dagegen ist das Opferdenkmal fast fertig, das der Täter dagegen noch immer eine Ruine.

Radikal sind in Argentinien aber auch die sozialen Folgen der Krise. Fast die Hälfte der porteños, wie sich die Bewohner von Buenos Aires selbst nennen, lebt unterhalb der Armutsgrenze. Wer sich bis zum Dezember 2001 als Tagelöhner oder Hilfsarbeiter verdingt hat, wühlt nun an den Straßenkreuzungen im Müll. Die Trennung von Pappe und Kartons ist in Buenos Aires zum neuen Symbol der Krise geworden, zu einer Ökonomie des Überlebens, zu der es keine Alternative gibt außer dem Hungern. Hartz IV wäre für die cartoneros keine „Armut per Gesetz“, sondern der pure Luxus.

Was in Buenos Aires tatsächlich „die Krise“ ist, lautete eine der Einsichten des zweitägigen Symposiums, sind in Berlin allenfalls Krisensymptome. Wenn Annett Gröschner von der Verhübschung des Prenzlauer Bergs berichtete, sprach sie damit nolens volens auch vom individuellen statt kollektiven Erfahren dieser „Gentrification“. Statt der Überlebenskrise also viele einzelne Lebenskrisen.

Noch deutlicher wurde die mangelnde Erfahrung von Krise als etwas die Existenz Bedrohendes im Beitrag von Matthias Rick über die „Fassadenrepublik“ im Palast der Republik. Die Bilder von Touristen auf Schlauchbooten im gefluteten Palast kamen in Buenos Aires nicht mehr als Akt der Aneignung an, sondern als sich verselbstständigendes Event, das geradewegs aus der Ideenwerkstatt der Marketinggesellschaft „Partner für Berlin“ stammen könnte. Vom Bankenskandal dagegen kein Wort, von der Angst der Mittelschichten ebenso wenig. Selbst Neukölln schien plötzlich ein idyllischer Ort für Künstler.

So unterschiedlich bereits die Bedeutung der „Krise“ auf beiden Seiten war – bei der Frage, welche Ergebnisse dieses Krisenlabor hervorbringt, gingen die Vorstellungen noch weiter auseinander. Während die Begriffe „Widerstand“ und „Sozialismus“ in Argentinien noch immer ohne Ironie benutzt werden können, weil sie den Betroffenen Befreiung versprechen, hat sich das Vokabular der Berliner Raumguerilleros längst vom sozialen Gegenstand und selbst der Vergangenheit gelöst, die jeder Krise innewohnt. Zwischennutzung ist für die Berliner Szene, wie es der tschechische Künstler Marek Schowanek bei einer Ausstellung in den Rathauspassagen formulierte, nur noch ein „Zwischenraum zwischen der Gegenwart und der Zukunft“.

Suchen wir also noch, oder spielen wir schon? Selbst der Kampf gegen den Neoliberalismus wurde, um es vorwegzunehmen, nicht zum kleinsten gemeinsamen Nenner beim Erfahrungsaustausch im Centro Cultural San Martín. Lag es daran, dass vor allem die Berliner Urbanisten längst übergelaufen und der neoliberalen Faszination erlegen sind? Dass die Besetzung leerer Räume im Grunde der gleichen kunstvollen Strategie folgt wie das Aufspüren von Steuerschlupflöchern durch findige Investoren? Dass das Glücksgefühl von Horacio Campos, als er zum ersten Mal die Vorstandsetage betrat, dem von Michael Rogowski nicht unähnlich gewesen sein muss, als dieser seine BDI-Tagung im ehemaligen Volkskammersaal des Palasts der Republik eröffnen durfte? Man hat es nicht herausgefunden, die Grenzen der eigenen Erfahrungen waren stärker als die gedachten Gemeinsamkeiten.

Jenseits der großen Begriffe allerdings gab es immer wieder interessante Koinzidenzen. Sowohl die Porteños als auch die Berliner haben inzwischen einsehen müssen, dass sie nicht länger der Nabel der Welt sind. Buenos Aires ist nicht mehr die Stadt der europäischen Einwanderer, als die sie sich immer wieder neu erfinden wollte, und Berlin ist keine Metropole in der Mitte Europas. Beide sind sie angekommen – die Argentinier in Südamerika, die Berliner im östlichen Mitteleuropa.

Der Traum ist also, allen Märchen zum Trotz, aus. Was dem Rückzug des Staates in Deutschland und der Kapitalflucht aus Argentinien folgt, ist in der Tat der leere Raum. Die nicht mehr benutzten Fabrikhallen der Impa in der Calle Querandies und der bis auf die Stahlskelette zurückgebaute Palast der Republik sind deshalb auch metaphorische Räume für eine Zukunft, von der wir nur wissen, dass wir noch viel zu wenig von ihr wissen.

Das Symposium in Buenos Aires, dem am Freitag und Samstag der Gegenbesuch in Berlin folgt, hat immerhin angedeutet, dass die Aneignung eines leeren Raums allein noch keine soziale und politische Strategie der Selbstbehauptung ist. Mehr noch: In der Besetzung jener physischen, sozialen und symbolischen Räume, die die Moderne mit ihrem Gleichheitsversprechen hinterlassen hat, tritt eine noch deutlichere Spaltung zutage als in den sozialen Auseinandersetzungen während des sozialdemokratischen Zeitalters. Wer sich in diesen hinterlassenen Räumen auskennt, überlebt, oder er wird reich und berühmt. Die andern verharren in Bewegungslosigkeit und merken zu spät, dass ihnen keiner mehr hilft. Nur die Niveaus dieser alles entscheidenden Frage werden sich auch in Zukunft voneinander unterscheiden.

Wie dieser urbane Dschungel funktioniert, war das eigentlich spannende, wenngleich unausgesprochene Thema, das über den Berichten der Künstler, Aktivisten und Urbanisten aus Berlin und Buenos Aires schwebte. Ein Thema, das auch bei manchem Berliner ein Gefühl des Unbehagens hinterließ. Selbst die Aneignungskünstler aus dem Palast der Republik müssen irgendwann, wenn das Spektakel vorbei ist, das nächste Projekt an Land ziehen. Und spätesten dann, wenn an der nächsten Ecke nichts mehr zu holen ist, fallen ihnen vielleicht wieder die Cartoneros ein. Dann steht sie auch in Berlin im Raum, die Frage: Spielen wir noch, oder suchen wir schon?