: Berlin liegt jenseits der Stille
Der Verkehrsclub Deutschland hat an Berliner Straßen den Lärmpegel gemessen – und festgestellt, dass es fast überall zu laut ist. Um die Stadt leiser zu machen, setzt der Senat auf die Tempo-30-Zone
von JOHANNES GERNERT
Einen besseren Ort hätte es nicht geben können. Der Berliner Landesverband des Verkehrsclubs Deutschland (VCD), ansässig in der Yorckstraße, stellte gestern die Ergebnisse einer Lärmstudie vor. Die Spitzenwerte maßen die Experten in der Yorckstraße. Auf durchschnittlich 75 Dezibel brachten es Autos, Laster und Bahnen an dem Verkehrsknoten während einer halbstündigen Messung – genau 10 Dezibel mehr, als das Umweltbundesamt tagsüber für erträglich hält, wobei schon 3 Dezibel subjektiv wie verdoppelte Lautstärke wirken. Gerade einmal zwei von insgesamt zwölf getesteten Straßen blieben unter dem Grenzwert.
Der VCD fordert nun eine bessere Finanzierung des Lärmschutzes, den Austausch von Kopfsteinpflaster gegen so genannten Flüsterasphalt und ein 100.000-Fenster-Programm für mehr häusliche Ruhe. Zudem sollen aktuelle Richtwerte gelten, wenn gegen Lärm saniert wird. Zurzeit arbeiten Behörden noch mit Vorgaben der Straßenverkehrsordnung aus dem Jahr 1981. Und die sind deutlich höher, als ein neueres Bundesimmisionsschutzgesetz nahe legt.
Die Ergebnisse, die tagsüber an einschlägigen Orten mit einem Messgerät erhoben wurden, wirkten angesichts des ständig zunehmenden Verkehrs noch dramatischer, sagte Sandro Battistini, der Sprecher des VCD Berlin. Seit 1990 habe der um 20 Prozent zugenommen. Etwa 250.000 Berliner sind täglich in ihren Wohnungen gesundheitsschädigenden Lautstärken von Hauptverkehrsstraßen ausgesetzt. In der Nacht gar 320.000. Besonders dann wirkt sich das Motorendröhnen laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts negativ auf Stoffwechsel, Atemwege und Blutdruck aus. Laut Bundesumweltamt steigt auch das Herzinfarktrisiko. Rund 2.000 Menschen sterben danach in Deutschland jährlich an Verkehrslärm.
Obwohl die Situation alles andere als entspannt erscheint, hat sich in Berlin in Sachen Lärmschutz schon einiges verbessert. Noch Mitte der Neunziger galt an Hauptstraßen das Primat des Verkehrs. Auf Beschwerden lärmgeplagter Anwohner reagierte der Senat mit taubem Ohr. Die rot-roten Stadtentwickler, darin stimmen viele Aktivisten überein, sind eher bereit zuzuhören und gehen sogar selbst gegen Lärm vor. Schließlich fordert eine EU-Richtlinie Aktionspläne. Derzeit laufen verschiedene Modellprojekte, in Köpenick beispielsweise ein „Konzept zur Lärmminderungsplanung.“ Zu diesem gehört etwa das beliebteste Instrument, das auch vom VCD gefordert wird: die Tempo-30-Zone. Die Gründe: „Hoher Effekt, wenig Kosten“, sagt Bernd Lehming vom Referat für Immissionsschutz der Stadtentwicklungsverwaltung. Geschätzte Dauer bis zur jeweiligen Einführung: über 10 Jahre. Geschätzter Effekt: minus 3 Dezibel.
Etwa 12 Jahre hat es gedauert, bis in der Brückenstraße nachts nur Tempo 30 galt (die taz berichtete). Der BUND unterstützte Anfang der 90er-Jahre die Klage einer Anwohnerin. Die Richter zwangen den Senat zunächst zu einem Nachtfahrverbot für Lkws, dann zur nächtlichen Tempo-30-Zone. Das Verfahren betrachtet der Verkehrsexperte des BUND, Martin Schlegel, als Präzedenzfall, „weniger juristisch als vielmehr politisch“. Schlegel hofft, dass Anwohner künftig weniger Hemmungen haben zu klagen.
Etwa 300 Klagen registriert Lehming jährlich. Die Zahl habe sich zuletzt „erheblich erhöht“. Bei einer Beschwerde berechnet seine Abteilung den Lärm aus Verkehrsaufkommen, Geschwindigkeit und Fahrbahnoberfläche. Zum Handeln ist sie nicht unbedingt verpflichtet. „Rechtlich gilt immer noch: Vieles kann und wenig muss“, so Alexander Hild, VCD-Rechtsexperte.