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Archiv-Artikel

Die Basis rebelliert

100.000 demonstrieren gegen sozialen Kahlschlag – gegen Kürzungen bei Behinderten, für das Recht auf Bildung und teilweise für die Revolution

von WALTRAUD SCHWAB

Viele Menschen, viel rote Farbe, viel Musik – die Stimmung auf der Demonstration gegen Sozialabbau ist gut. Schon allein deshalb, weil zehnmal mehr Leute als erwartet kamen, um Nein zu sagen. 100.000 statt 10.000. Nein zu der ungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen von oben nach unten. Nein zu einer Politik, die Jugendlichen keine Chance lässt. Nein zu einem Sozialkahlschlag, der das gesellschaftliche Gleichgewicht kaputtmacht.

„Das ist die Basis ohne ihre Durchlauchts“, sagt eine Berlinerin. Viel Gewerkschaftsvolk ist darunter. IG-Metall-Betriebsgruppen aus Provinzstädten, Ver.di-Erwerbslosen-Ausschüsse aus Unterbezirken, Stempel-Kumpels aus dem Ruhrgebiet.

„Auf 20 ‚Sozialschmarotzer‘ eine offene Stelle“, haben sich die IG-BAU-Leute auf ihr Plakat geschrieben. Und die, die das Transparent tragen, gehören zu den 20. Daran lassen sie keinen Zweifel. „Was ist das für eine Wirtschaftspolitik, die Arbeitswillige zu Nassauern macht?“, fragt der beleibte Fahnenträger.

Gründe, auf diese Demonstration zu gehen, gibt es viele. Aufrufe dazu jedoch kamen vor allem von den gesellschaftlichen Randgruppen: Von der Antiglobalisierungsbewegung und von linken Gruppen innerhalb der Gewerkschaften, von Wohlfahrts- und Berufsverbänden, Hochschulgruppen, Jugend- und Migrantenorganisationen. Selbst EU-Consultants, Rechtsanwälte, Schauspieler gehörten zu denen, die zur Demonstration aufriefen.

Im Nachhinein heftet sich auch die PDS, wolflos, ans Revers, zu den Unterstützern zu gehören. Dass es eher Parteigruppen aus Mittweida oder Mainz-Bingen waren, die dafür sorgten, dass die SED-Nachfolgepartei dabei ist, wird heruntergespielt. In einem der PDS-Demonstrationsblöcke wird die Internationale gespielt. Einer Fahnenträgerin laufen Tränen der Rührung übers Gesicht.

Kein Zweifel, die Demonstration geht ans Herz. Aufrufe zur Gründung von Montagskreisen werden herumgereicht. Ein Arbeitslosenorchester intoniert „Bella Ciao“, ein Rollstuhlblock protestiert gegen die Kürzungen bei den Behinderten. Blinde, begleitet von Menschen auf Krücken, demonstrieren gegen die Kürzungen des Blindengeldes. Junge MigrantInnen protestieren für ihr Recht auf Bildung und Arbeit und gegen Ausgrenzung. Linke Splittergruppen träumen von der Revolution.

Sogar Leute mit Lafayette-Tüten und Reisende mit ihren Handkoffern reihen sich ein und laufen die Torstraße entlang mit bis zum U-Bahnhof Oranienburger Tor, um von dort zum Flughafen zu fahren. Selbst das Lied von Sacco und Vanzetti ist wieder da. Über Lautsprecher, die auf Kinderwagen festgebunden sind, wird es gespielt. Dazu überall die Farbe Rot. Kein Trauermarsch, ein Wutmarsch.

Trotz Abgesangs in den Medien, trotz Regens und ohne Unterstützung der großen Parteien gehen die Leute auf die Straße. „Echt genial“, sagt eine junge Frau im Attac-T-Shirt zu ihrem Freund, „wo doch alle dachten: Das floppt.“ Angesichts der großen Unterstützung wird über Lautsprecher die Hoffnung heraufbeschworen, dass dies der Beginn einer neuen sozialen Bewegung sei. Sollte sich das bewahrheiten, dann gilt: Die SPD und die Grünen, Parteien also, die durch die Verteidigung sozialer Ideen groß wurden, sind dabei nicht mehr vertreten.

Und auch Ver.di-Bundeschef Frank Bsirske, der ganz am Ende des Demonstrationszugs auftaucht, macht keine gute Figur. Seine Hände hat er in die Taschen seines schwarzen Mantels vergraben. Tief eingezogen auch sein Genick.

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