: Der Mengele-Mythos
Der südbrasilianische Ort Cândido Godói hat weltrekordverdächtig viele Zwillingsgeburten. Jetzt schüren neue Publikationen das Gerücht, dafür könnten angebliche Experimente des deutschen KZ-Arztes Josef Mengele verantwortlich sein. Die Gemeinde nutzt den mysteriösen Kindersegen touristisch
Theorien: Besonders im angloamerikanischen Raum beflügelt der „Todesarzt von Auschwitz“ bis heute allerhand wilde Fantasien. Motto: je abgedrehter, desto besser.
Thriller: In seinem vor kurzem erschienen Politthriller „Das letzte Experiment“ macht der schottische Erfolgsautor Philip Kerr den argentinischen Präsidenten Juan Domingo Perón zum Diktator, der massenweise junge Frauen schwängert. Dann schickt der Nazifreund sie gedopt und in Handschellen in Josef Mengeles Abtreibungsklinik in Buenos Aires.
Kult: Das hochkarätig besetzte B-Movie „The Boys from Brazil“ (1978) ist bereits Kult. Die Story: In den Sechzigerjahren hat Mengele (Gregory Peck) seine 94 Hitlerklone mit der brasilianischen Fluglinie Varig in alle Welt exportieren lassen. Von Paraguay aus plant er die Ermordung ihrer Adoptivväter.
Presse: Von den neuen Erkenntnissen des argentinischen Journalisten Jorge Camarasas über das Dorf Cândido Godói berichtete im Januar als erste Zeitung außerhalb Argentiniens das Londoner Boulevardblatt Daily Mail. GD
AUS CÂNDIDO GODÓI GERHARD DILGER
Verschwörerisch senkt Anencir Flores da Costa die Stimme. „Hier war der Nazismus stark“, sagt der 65-Jährige im Arztkittel, sieht über den goldenen Rand seiner Lesebrille und schlägt sein Buch „Meus dois corpos“ („Meine zwei Körper“) auf. Er zeigt auf ein Foto einer Grundschulklasse aus dem südbrasilianischen Cândido Godói. Es ist auf den 11. Oktober 1936 datiert. Die Kinder schauen ernst drein und halten Papierfähnchen hoch. Hinten stehen die Jungen mit den brasilianischen Nationalfarben, davor knien und sitzen die Mädchen mit der schwarz-weiß-roten Reichsflagge und dem Hakenkreuz auf rotem Grund.
Wie schon einmal in den Neunzigerjahren ist Cândido Godói, eine 7.000-Seelen-Gemeinde unweit der argentinischen Grenze, ins Gerede gekommen – auch wegen da Costa. Der Landarzt und frühere Bürgermeister, der seit 1970 in der Region wohnt, hat das Buch vor zwei Jahren zusammen mit einem Freund herausgebracht. Die beiden suggerieren, KZ-Arzt Josef Mengele könnte hinter der weltrekordverdächtigen Zwillingsdichte von São Pedro stecken, einem Weiler zwölf Kilometer entfernt von der Ortsmitte. Pseudojournalistischen Fragmenten und einer Presseschau, die dafür nicht ausreichen, haben sie daher einen schwer verdaulichen Trivialroman vorangestellt. Darin durchstreift der „Todesengel“ die Gegend als Tierarzt – mit drei Nazihelfern, die den Leuten Blut abnehmen.
Doch in seiner Praxis im örtlichen Krankenhaus gibt sich da Costa ganz sachlich. „Ich bin davon überzeugt, dass Mengele in den Sechzigerjahren mehrfach in unserer Region war. Einige haben ihn in den Achtzigerjahren auf Zeitungsfotos erkannt.“ Dann kritzelt er Zahlen auf ein Blatt Papier: „Bis heute wurden in 37 der 67 Familien von São Pedro Zwillinge geboren, die meisten in den Sechzigern, viele blond und blauäugig. 33 Prozent waren eineiig, 66 Prozent zweieiig. Genetiker untersuchen das Phänomen, aber eine schlüssige Erklärung haben sie bis heute nicht gefunden“. Und Mengele ist für den Zwillingsboom verantwortlich? „Nein, nein“, wehrt da Costa ab, „ich vermute, er hat davon gehört und wollte ihn studieren.“
Dass es das Thema jüngst sogar in die Schlagzeilen der Weltpresse geschafft hat, ist wiederum dem argentinischen Journalisten Jorge Camarasa zu verdanken. Der hat vor ein paar Monaten eine schmale Mengele-Biografie veröffentlicht, die sich vor allem um Cândido Godói dreht. Im Klappentext heißt es zu den Zwillingen: „Ein Experiment Mengeles? Das ist möglich.“ Camarasa hat mehrere populärwissenschaftliche Werke über die Nazis im Argentinien der Vierziger- und Fünfzigerjahre verfasst. Schon 1995 stellte er den „schaurigen“ Zusammenhang zwischen einer „ausschließlichen Besessenheit“ des „Todesengels“ für Zwillinge und dem Kindersegen in São Pedro her.
„Stadt der Obstbäume, Land der Zwillinge“ prangt in gotischen Lettern auf dem riesigen Eingangstor von Cândido Godói. Die ländliche Gemeinde, die 550 Kilometer nordwestlich von Porto Alegre liegt, nutzt den mysteriösen Kindersegen mittlerweile touristisch – alle zwei Jahre findet ein Fest statt, zu dem die Zwillinge aus São Pedro dutzendweise anreisen.
Das inoffizielle Stadtwappen, das Bushaltestellen und Wände schmückt, besteht aus zwei hintereinander gemalten identischen Profilen. Einem ZDF-Team aus Rio hat die Gemeindeverwaltung ein mehrtägiges Besuchsprogramm zusammengestellt: Für das „Auslandsjournal“ treten Zwillinge beim Trachtentanz, Fußballspiel und Churrascoessen auf. In einer Schulklasse werden Drillinge gefilmt, dann das Dorfmuseum „Zwillingshaus“. Neulich war ein Reporter der New York Times da.
Cândido Godói lebt von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Es wachsen Soja, Weizen, Mais oder Bohnen. Nur noch selten werden die leicht hügeligen Felder mit Ochsenpflügen bestellt. In puncto Bildungsstand und Langlebigkeit liegt der Ort weit über dem Landesdurchschnitt. Armenviertel sind ebenso unbekannt wie hoch umzäumte Grundstücke oder vergitterte Fenster.
Gut 80 Prozent der Einwohner sind deutscher Abstammung. Selbst viele Jugendliche unterhalten sich im Hunsrückdialekt, den ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert mitgebracht haben. Doch die Jungbauern sind nicht von gestern. 60 von ihnen arbeiten gerade für zwei Jahre in der Dreiländerregion Österreich/Schweiz/Liechtenstein. „Keine Ahnung, wo die vielen Zwillinge herkommen“, sagt Heimkehrer Marcos Habitzreuter, 25, in breitestem Vorarlberger Dialekt und grinst. „Vor vierzig Jahren gab’s halt keine Fernseher.“
In São Pedro, der Zwillingshochburg, setzt man dagegen auf Volksfrömmigkeit. Hinter einer „Wunderquelle“ und ihrem Kapellchen mit Doppelturm wurde auf dem letzten Zwillingsfest ein Denkmal eingeweiht – eine vollbusige Mutter mit zwei Kleinkindern auf den Armen. Daneben gibt es T-Shirts und kleinen Flaschen mit „Fruchtbarkeitswasser“ samt einer „alten Legende“ zu kaufen. Darles und Darlene Volkweis sind genervt, weil sie schon wieder für Reporter posieren müssen: Sie sind die einzigen Zwillingskinder im Schulalter.
„Vielleicht wurde die Häufung der Eizellen durch eine mineralische Substanz in ein, zwei Quellen verursacht“, sagt Paulo Sauthier, Jahrgang 1964, selbst ein zweieiiger Zwilling. „Damals gab es hier keine Softdrinks oder Bier, sondern vor allem Wasser und Matetee“, meint der Geschichtslehrer, der einen Freizeitpark samt Schwimmbad und Heimatmuseum angelegt hat. „Und seit den Siebzigerjahren, als die Wasserleitungen gelegt wurden, gibt es viel weniger Zwillinge. Aber letztlich ist auch das reine Spekulation.“
Die Mengele-Hypothese findet Sauthier allerdings völlig abwegig: „Auch wenn es Indizien dafür gibt, dass Mengele unsere Region als Korridor benutzt hat: Nie hätten unsere Frauen in den Sechzigern Experimente zugelassen oder Mittelchen von Fremden angenommen“, sagt er, „damals wurden die Schwangeren von Hebammen begleitet, nicht von Ärzten.“
In den Dreißigerjahren habe es eine kurze Phase naiver Begeisterung für die Nazis gegeben, berichtet der Hobbyhistoriker und zeigt in seinem Museum auf eine Milchkanne, die ein Hakenkreuz ziert. „Doch dann war es verboten, Deutsch zu sprechen, und in den letzten Kriegsjahren wurden die Leute verfolgt. Sie mussten ihre deutschen Bibeln und Notenblätter im Wald vergraben, unsere Kultur wurde regelrecht erdrosselt.“
Einige „Kriegsflüchtlinge“ hätten nach dem Zweiten Weltkrieg in der näheren Umgebung von Cândido Godói Unterschlupf gefunden, weiß Sauthier: „Aber das war nur eine Handvoll. Zu solchen Leuten hat Mengele bestimmt Kontakt gehabt. Aber dass er an die Kolonisten herangekommen ist und sie für irgendwelche Experimente gewinnen konnte? Völlig ausgeschlossen! Ich habe die Leute schon vor Jahren befragt.“
An den Buchautoren lässt er kein gutes Haar: „Camarasa hab ich hier nie gesehen, Für mich ist das ein literarischer Spieler. Anencir, der ist von einer anderen Kultur, dem trauen die Leute nicht. Für mich als Deutschen war das leichter, aber da gibt es nichts“.
Ähnlich sieht das Bürgermeister Valdi Goldschmidt, ebenfalls ein Arzt. Der bärtige Mittvierziger gibt sich betont pragmatisch: „Ich weiß nicht, wie das Zwillingsphänomen zu erklären ist. Das Wasser, das Klima, schlichter Zufall? Früher hatten viele Familien zehn Kinder, da war auch die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie Zwillinge bekommen.“ Schaden für das Städtchen befürchtet er wegen der Mengele-Legende nicht.
Fest steht: In den Fünfzigerjahren lebte der KZ-Arzt unbehelligt in Argentinien. Im Gespräch mit dem Autor Tomás Eloy Martínez erinnerte sich der damalige Präsident Juan Domingo Perón sogar an ein Treffen mit einem „bayerischen Genetikspezialisten“ mit Mengeles Pseudonym Gregor, der sich mit der Aufzucht von Zwillingskälbern brüstete. Ende des Jahrzehnts floh er nach Paraguay, drei Fahrtstunden von Cândido Godói entfernt. Im Oktober 1960 zog er in den Bundesstaat São Paulo, wo er bis zu seinem Ertrinkungstod 1979 unerkannt blieb.
In den bislang bekannten Tagebuchaufzeichnungen und Briefen, die hunderte von Seiten umfassen, äußerte sich Mengele ausführlich zu seinen Lebensumständen und Ängsten in Brasilien. Darin findet sich kein einziger Hinweis auf Cândido Godói. Für Jorge Camarasa ist auch das kein Problem: Mengele habe sich die Zwillingsfrage für ein Buchprojekt aufgespart, vermutet er.
Dass der Naziarzt in den Sechzigerjahren durch die Grenzregion gekommen ist, hält der Historiker René Gertz aus Porto Alegre für plausibel. Er legt aber auch Wert auf die Feststellung: „Unsere deutschstämmigen Kolonisten waren konservativ, aber viel weniger NS-freundlich, als allgemein angenommen“. In die Mühlen der Weltpolitik seien sie weitgehend unverschuldet gekommen. Dann führt er den Soziologen Max Weber ins Feld: „Alles andere hängt mit dem gestiegenen Bedürfnis nach Verzauberung zusammen.“
Anencir Flores da Silva hingegen will weiterwühlen. In seinem Buch schreibt er als Widmung: „Die Wahrheit muss ans Tageslicht kommen.“