: Minus für Merkel
Der Flop der Kampagne der Unionsparteien gegen einen EU-Beitritt der Türkei zeigt: CDU und CSU haben das rot-grüne Reformwerk „Zivilgesellschaft“ unterschätzt
Die Debatte um eine mögliche Aufnahme der Türkei in die Europäische Union war in der Bundesrepublik niemals nur ein intellektuelles Abwägen von Für und Wider. Stets wurde dabei auch die Frage verhandelt: Wie halten wir es mit unseren Türken? In den letzten 30 Jahren wurden sie für so ziemlich alle möglichen denkbaren Missstände verantwortlich gemacht: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Gewalt, Wohnungsnot, Bildungsdefizite. Ohne Türken hätte Deutschland weniger Probleme, so der Tenor der Debatten. Und: Nicht nur die extreme Rechte machte und macht mit der Beschwörung der Türkengefahr seit langem Stimmung. Auch die Unionsparteien verstanden es in der Vergangenheit meisterhaft, damit zu punkten.
Erfinder des rassistisch konnotierten Wahlkampfs ist keineswegs Roland Koch, wie in den letzten Tagen häufiger zu lesen war. Die von ihm 1999 inszenierte Unterschriftenkampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft – „Wo kann ich hier gegen Türken unterschreiben?“ – folgte einer alten Rezeptur. CDU und CSU wissen seit dem Wendewahlkampf 1982/1983: Rassismus zahlt sich aus. Damals versprach Helmut Kohl angesichts von zwei Millionen Arbeitslosen und zwei Millionen Einwanderern aus der Türkei, er werde die Zahl der Arbeitssuchenden und die der Türken in Deutschland einfach halbieren. Zu viele Bürger glaubten und wollten dies – und machten Kohl zum neuen Kanzler. Seit dieser Zeit gehörte die Beschwörung der Türkengefahr ebenso zum Repertoire der Union, wie Anti-Asyl- und Anti-Zuwanderungs-Debatten.
Die Entfesselung rassistischer Ressentiments in der Bevölkerung durch Teile der politischen Eliten gehört zu den schlimmsten Fehlentwicklungen in Nachkriegsdeutschland. Zu ihren dramatischen Folgen zählen Ermutigung rassistischer Gewalttäter und Verhinderung einer vernünftigen Integrationspolitik. Vor dieser Folie ist es umso interessanter zu sehen, warum die CDU-Chefin Angela Merkel und der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber sich binnen weniger Tage genötigt sahen, ihre Pläne für eine Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei aufzugeben.
Der Protest war zu stark, zu eindeutig und zu vehement – und er ging quer durch die Gesellschaft. Selbst in den Reihen der Union stießen die Pläne der Parteiführungen auf schroffe Ablehnung. Das war nicht unbedingt zu erwarten. Warum war Roland Koch noch 1999 mit der Mobilisierung niedriger Instinkte so erfolgreich? Und warum scheiterten Merkel und Stoiber fünf Jahre später so grandios?
Obgleich die jüngsten Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien andere Schlussfolgerungen nahe legen, deutet vieles darauf hin, dass sich die demokratische Alltagskultur in Deutschland in den letzten Jahren positiv entwickelt hat. So blieben zum Beispiel die nach den Schockereignissen des 11. September 2001 befürchteten antiislamischen Übergriffe und Ausfälle weitgehend aus. Und nun machen Merkel und Stoiber nach Jürgen Rüttgers („Kinder statt Inder“) die Erfahrung: Einstmals Bewährtes stößt heute bei der Bevölkerung auf schroffe Ablehnung.
Der Flop von Merkels Liebäugeln mit einer Anti-Türken-Kampagne sind eng verwoben mit den politischen Ereignissen des Sommers 2000. Zur Erinnerung: Nach einem rassistischen Mord in Dessau, einem Anschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf und einem weiteren, bis heute ungeklärten Anschlag in derselben Stadt rief Gerhard Schröder damals den „Aufstand der Anständigen“ aus. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik gingen Kanzler und Regierung gemeinsam mit der Zivilgesellschaft auf die Straße, um sich Rassismus und Rechtsextremismus entgegenzustellen.
Der Aufstand der Anständigen – von vielen, auch vom Autor dieser Zeilen, vorschnell als symbolische Gesinnungshuberei belächelt – wirkt bis heute nach. Er ist ein Gewinn für die Demokratie, an dem auch die Pleiten der Regierung beim Staatsbürgerschaftsrecht, dem Zuwanderungsgesetz und in der Asylpolitik nichts ändern können. Einer der Gründe dafür ist, dass sich der Aufstand eben nicht nur auf Symbolik beschränkte. In der Folge sind bundesweit einige zig Millionen Euro in den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen geflossen. Auch dies ist ein Novum in der Geschichte der Republik, das von der breiten Öffentlichkeit bis heute kaum registriert wurde. Aber die Ergebnisse sind sichtbar.
Heute durchzieht die Bundesrepublik ein zivilgesellschaftliches Netzwerk, das bis tief in die Kommunen, Schulen und Institutionen der Politik und Verwaltung reicht. Seit dem Sommer 2000 ist es zudem recht schnell zu mobilisieren. Dieses Netzwerk hat sich längst in einem informellen Prozess darauf verständigt, was in der Politik tolerabel ist und was nicht. Nach dem 11. September 2001 haben die antirassistischen Bürgerzusammenschlüsse ihre erste ernste Bewährungsprobe bestanden. Anstatt ihre muslimischen Nachbarn zu beschimpfen, strömten die Deutschen damals zu zehntausenden am „Tag der Moschee“, dem 3. Oktober, neugierig in die islamischen Gotteshäuser. Bis heute gibt es bundesweit hunderte von Dialogveranstaltungen, auf denen sich muslimische und nichtmuslimische Bürger und Organisationen austauschen und streiten.
Angela Merkel hat das rot-grüne Reformwerk „Zivilgesellschaft“ unterschätzt. Zu leichtfertig kokettierte sie mit dem Türkenjoker. Nun steht sie ziemlich blamiert und beschädigt da. Erst die nächste Zukunft wird zeigen, ob sie mit diesem politischen Fehler auch ihre Chancen verspielt hat, als Spitzenkandidatin in den Bundestagswahlkampf 2006 einzuziehen. Aber schon heute ist sicher, dass bundesdeutschen Politikern auf absehbare Zeit die Lust vergangen ist, mit antitürkischen Ressentiments auf Stimmenfang zu gehen. Das ist ein großer Erfolg.
Die Ereignisse der letzten Tage haben aber nicht nur die Führungsschwächen der Union offenbart. Sie haben auch gezeigt: Der Kampf gegen rechts ist keineswegs gescheitert, wie Burkhard Schröder in seinem Kommentar zum Erfolg der NPD bei der Sachsenwahl bemerkte (taz vom 23. September). Schließlich war dieser Kampf auch immer einer gegen die Rassismen und Ressentiments der politischen Mitte. Wenn diese Mitte nun, anders als früher, abweisend auf den Rechtspopulismus der CDU/CSU reagiert, ist das eine bemerkenswerte Entwicklung.
Natürlich verlieren Unionsparteien, die sich rechtspopulistische Kampagnen gegen Asylsuchende und Türken versagen, auch ein paar Wähler an rechtsextremistische Parteien; möglicherweise ziehen die Neonazis damit sogar in weitere Parlamente ein. Aber diese verstärkte Präsenz neonazistischer Gruppen kann dann durchaus als eine Begleiterscheinung der Erfolge im Kampf gegen rechts gelesen werden. Denn eine offen agierende rechtsextremistische Partei im Parlament ist allemal einer CDU/CSU vorzuziehen, die im biederen und seriösen Kleid der politischen Mitte rassistische Ressentiments überhaupt erst gesellschaftsfähig macht.
EBERHARD SEIDEL