Standbilder auf Tournee

„Wollen Sie meine Geschichte hören?“, fragt eine türkische Wanderausstellung den Besucher. Sie begreift Menschenrechte nicht nur als politisches Thema. Die Resonanz von offizieller Seite ist positiv

AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH

Aus großen Augen, das Gesicht von einem streng gebundenen islamischen Kopftuch eingerahmt, schaut einem Burcu Kocoglu (22) direkt ins Gesicht. Überlebensgroß steht sie da, in der ehemaligen Werkshalle der historischen Münze, da, wo früher die Sultane ihre Silberlinge prägen ließen. Das Standbild von Burcu verweist auf eine dahinter stehende Plakatwand, auf der ihre Geschichte dokumentiert ist. Die junge Frau wollte Soziologie studieren, weigerte sich aber, ihr Kopftuch abzulegen, und durfte deshalb die Universität nicht betreten.

Neben Burcu, die persönlich anwesend ist, gibt es in der Ausstellungshalle 31 weitere Großporträts von Leuten, die dem Besucher ihre Geschichte erzählen. Einer wurde nach dem Putsch 1980 eingekerkert und gefoltert, eine Mutter berichtet über ihren verschwundenen Sohn, eine junge Frau, Yesim Basaran, erzählt, welche Probleme sie wegen ihrer lesbischen Orientierung hat, und Akin Atuaz, Professor aus Ankara, wirbt für Fußgängerrechte im tödlichen Verkehr der türkischen Großstädte.

„Wollen Sie meine Geschichte hören?“, fragen die Standbilder den Besucher. So heißt auch die Ausstellung, die in der letzten Woche an dem historischen Ort in Istanbul, der nun Kunst und Kultur gewidmet ist, eröffnet wurde. Es sind zwei Besonderheiten, die sie auszeichnet. Zum einen ist es wohl das erste Mal, dass in der Türkei Menschenrechte nicht nur in einem engen politischen Sinn begriffen und dargestellt werden, sondern soziale und gesellschaftliche Fragen ebenfalls darunter subsumiert werden. Zum anderen wird diese Ausstellung nicht nur in Istanbul und vielleicht noch in Ankara gezeigt, sondern sie ist fast ein Jahr lang durch die türkische Provinz getourt.

Ülkü Özen, die das Projekt mit vorbereitet hat, war immer mit dabei. „Wir wollten den Begriff Menschenrechte von der engen Fixierung auf Folter und politische Verfolgung auf alle Probleme, die ein menschenwürdiges Leben behindern, ausweiten. Menschenrechte sind auch kulturelle Rechte, Kinderrechte oder das Recht auf unterschiedliche Identitäten.“

Ülkü Özen ist Mitarbeiterin der türkischen Geschichtsstiftung, eines privaten Vereins, der sich zum Ziel gesetzt hat, das kulturelle und historische Erbe des Landes zu bewahren. „Ausgangspunkt unserer Überlegungen“, so Özen, „war denn auch ein Projekt über die Geschichte der Menschenrechte.“ In Zusammenarbeit mit Menschenrechtsorganisationen hat der Geschichtsverein verschiedene Leute gefragt, ob sie bereit wären, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. „Es hat übrigens niemand abgelehnt“, erzählt Özen, obwohl die Leute sich mit ihrem Namen, ihrem Gesicht und ihrer Geschichte im ganzen Land präsentieren sollten. Ein Jahr lang ist Ülkü Özen zur Vorbereitung zusammen mit anderen freiwilligen Helfern des Vereins durch die Türkei gereist, hat mit Bürgermeistern gesprochen, mögliche Ausstellungsplätze angeschaut und Termine abgesprochen.

Im März ging es dann in Izmir los, vom Westen bis in den Osten der Türkei, nach Van, Diyarbakir und Mardin, mitten in das frühere Bürgerkriegsgebiet. „Gerade dort war das Interesse riesig“, erzählt sie, „in Diyarbakir haben jeden Tag 600 Leute die Ausstellung besucht. Selbst von offizieller Seite sind wir unterstützt worden.“ Die Einstellung zu Menschenrechten, das ist die durchgehende Erfahrung von Ülkü Özen, „hat sich in der Türkei dramatisch gewandelt. Menschenrechte sind heute ein Türöffner. Kein Bürgermeister oder Gouverneur will sich nachsagen lassen, er unterstütze nicht die Durchsetzung der Menschenrechte.“ Noch vor zwei, drei Jahren, ist sich Ülkü Özen sicher, hätte man eine solche Ausstellung vor allem in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei kaum machen können.

Trotzdem gibt es natürlich weiterhin Menschenrechtsverletzungen. „Wir wollen nicht behaupten, dass die Folter in der Türkei Geschichte wäre. Eine Ausstellung kann nur Denkanstöße geben. Das haben wir aber, glaube ich, erreicht“, sagt Ülkü Özen. In jeder Stadt hat der Verein neben der Ausstellung noch eine Diskussionsveranstaltung mit der Anwaltskammer oder anderen zivilen Organisationen auf die Beine gestellt. „Bis auf wenige Ausnahmen war das Interesse riesig und die Resonanz sehr gut“, freut sich Ülkü Özen.