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Archiv-Artikel

Jugendamt hat kein Recht auf Wegsehen

Der Bundesgerichtshof billigt einem ehemaligen Pflegekind Schadensersatz zu. Das Jugendamt muss dafür haften, dass es sich nicht um das Kind gekümmert hat, obwohl der Junge fast verhungert wäre. Das Amt aber sah sich als nicht zuständig an

AUS KARLSRUHECHRISTIAN RATH

Jugendämter, die sich nicht um das Wohlergehen von Pflegekindern kümmern, haften für entstehende Schäden. Dies entschied gestern der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe. Ein Junge, der bei seinen Pflegeeltern fast verhungert wäre, bekommt 25.000 Euro Schmerzensgeld plus Schadensersatz in noch nicht bezifferter Höhe.

Der tragische Fall ereignete sich im Rems-Murr-Kreis (Baden-Württemberg). Eine Familie mit drei leiblichen Kindern hatte noch drei Pflegekinder aufgenommen, aber offensichtlich nur des Geldes wegen. Die eigenen Kinder waren wohlgenährt und gut entwickelt, dagegen bekamen die Pflegekinder viel zu wenig zu essen und wurden regelmäßig misshandelt.

Das Jugendamt Rems-Murr intervenierte erst, als das jüngste der drei Pflegekinder an Unterernährung starb. Der nun klagende Andreas war zu diesem Zeitpunkt – im Alter von acht Jahren – 1,04 Meter groß und wog nur 11,8 Kilogramm. Altersgerecht wäre eine Körpergröße von 1,30 Meter und ein Gewicht von 23 Kilogramm gewesen.

Die Pflegeeltern, eine Kinderpflegerin und ein angehender Waldorf-Pädagoge, wurden 1999 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Strafrechtliche Ermittlungen gegen die Mitarbeiter des Jugendamtes wurden eingestellt. Allerdings verpflichtete das Oberlandesgericht Stuttgart den Rems-Murr-Kreis wegen seiner Amtspflichtverletzung zur Zahlung von Schadensersatz. Ein Urteil, das jetzt vom Bundesgerichtshof bestätigt wurde.

In der mündlichen Verhandlung beim BGH hatte sich das Rems-Murr-Jugendamt für unzuständig erklärt. Da Andreas' leibliche Mutter das Kind zurückverlangt habe, sei vielmehr noch das Jugendamt in Hof verantwortlich gewesen, wo die Pflegefamilie bis 1993 wohnte. Wie der BGH jetzt feststellte, ist allerdings jeweils „der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat“, nach dem Umzug der Pflegeeltern also der Rems-Murr-Kreis.

Außerdem erklärte der BGH, dass nach einem Umzug der Pflegefamilie ein „Antrittsbesuch“ des neuen Jugendamtes erforderlich ist. „Dabei muss auch mit dem Pflegekind persönlich gesprochen werden“, betonte der Vorsitzende Richter Wolfgang Schlick, „die Kontaktaufnahme zu den Pflegeeltern genügt nicht.“ Dagegen hatte Wendt Nasall, der Anwalt des Rems-Murr-Kreises, vor obligatorischen Kontrollbesuchen der Behörden gewarnt. Diese könnten sich auf Pflegeeltern und -kinder negativ auswirken.

Schließlich gewährte der BGH dem Kläger noch Beweiserleichterungen. Andreas' Anwalt Reiner Hall musste nicht nachweisen, dass das Jugendamt bei einem Kontrollbesuch auf jeden Fall den beklagenswerten Zustand des Pflegekindes erkannt hätte. Es genüge, wenn dies „nahe liegt“. Der Rems-Murr-Kreis hatte sich darauf berufen, dass ein Schularzt, der Andreas zwischenzeitlich untersuchte, nichts Auffälliges feststellen konnte. Die Mutter hatte die Magerkeit des Kindes geschickt mit einer Lebensmittel-Allergie erklärt.

Der heute 15-jährige Andreas war beim Prozess in Karlsruhe nicht anwesend. Anwalt Hall bat die Medien auch, keinen Kontakt zu ihm aufzunehmen. „Er hat schon genug durchgemacht“, sagte Hall. Das nun erstrittene Geld wird Andreas an seinem 21. Geburtstag ausgezahlt. Der Schadensersatz umfasst „sämtliche materiellen und künftigen immateriellen Schäden“ des Jungen.

Das BGH-Urteil hat für die deutschen Jugendämter auch eine positive Seite. Wenn bei ihnen Stellen eingespart werden sollen, können sie künftig auf drohende Schadensersatzpflichten hinweisen.