Die Geräusche des Windes

Schwarz-weiß durch die Wüste, und das in der Totalen: Bei Raymond Depardons Film „Vom Westen unberührt“ drängt sich Deleuze’ Wort von den reinen optischen oder akustischen Situationen auf – die Sahara wird zur Traumlandschaft

Verhüllte Figuren schwanken auf Kamelen durch die gleißende Saharalandschaft. Helle Stoffe lassen von den Gesichtern nur die Augen frei. Langwaffen weisen die umherstreifenden Wesen als neuzeitliche Jäger oder Krieger aus. In „Vom Westen unberührt“ richtet Raymond Depardon den Blick auf eine lebensfeindliche Umwelt, und das in der Totalen.

In Bildern der Leere erzählt der Film aber auch die Geschichte eines Jungen. In seiner Kindheit sind Alifas Eltern bei einem Raubzug getötet worden. Alifa wurde vom feindlichen Stamm adoptiert, nun ist er ein junger Mann und als Jäger und Führer ein unentbehrliches Mitglied der Gemeinschaft.

Das Verhältnis von Eigen- und Fremdheit setzt sich auf anderen Ebenen fort. Diese Geschichte – sie basiert auf einer 1922 veröffentlichten Romanvorlage des Militärs Diego Brosset – findet vor dem Hintergrund der französischen Kolonialisierung Afrikas statt. Dem Vormarsch der Kolonialtruppen entspricht der Rückzug der Bewohner in immer unwirtlichere Wüstenzonen. Die dramatischen Bindungen von Depardons Films sind jedoch gering. Er ist eher an Situationen als an Handlungen interessiert. Eselshufe sinken in den Sand ein. Hunde werden erschossen. Menschen tanzen im Wind, und weitschweifige Rituale der Begrüßung sind nötig, um Freunde von Feinden zu unterscheiden.

Die Erzählung – sie wird von kurzen Voice-over-Passagen getragen – wird in Tableaux aufgelöst, die zum Kontinuum einer konzentrierten Bewegung werden, in einem eindringlichen und sensuellen Schwarzweiß fotografiert. Deleuze’ Wort von den reinen optischen oder akustischen Situationen drängt sich auf, während die Geräusche des Windes an Antonionis Filme der frühen 1960er-Jahre erinnern. Depardon ist ein souveräner Organisator von Zeit.

In der Depardon’schen Wüste sind aber auch noch eine Reihe andere Geschichten verankert. Das Meer, die Schneelandschaft oder das Hochgebirge sind als die großen Projektionsräume der europäischen Romantik zu erkennen. So unberührt vom Westen der Minimalismus und die Idee von Beseelung und Entgrenzung hier sein mögen – das entleerte Bild scheint sich doch auch auf die Anfänge einer Moderne zu beziehen, die etwa von einem Bild wie Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ gesetzt wurden. Auch hier wird die reduktionistische Landschaft zu einem Traumgebiet, in dem in diesem Fall eine eigenartige Ethnografie in Szene gesetzt wird.

Der französische Offizier des Ersten Weltkriegs, im Auftrag einer totalen Raumkontrolle unterwegs, versetzt sich in die Position eines Gegners, den er zugleich in den totalen Rückzug zwingt. Vor dem Hintergrund einer expansiven Militärtechnologie aktiviert sich so eine prähistorische, nichtstädtische Fantasie von einem gesellschaftlichen Leben in Sippen und Stämmen. Trotz aller Faszination für das Fremde ist die Unberührtheit relativ. Der Soldat sieht auch in der romantisierten Rückschau nur Soldaten, Mobilität, Kampfkraft und Krieg.

Die Sahara mag selbst im Zeitalter von GPS fotogene Geheimnisse wahren. Doch trotz ihrer kontinentalen Ausdehnung war sie nie das fantastische, kaum bewohnbare Sandmeer, als das sie hier erscheint, sondern ein wichtiger Transit- und Wirtschaftsraum zwischen Nord- und Mittelafrika.

MANFRED HERMES

„Vom Westen unberührt“. Regie: Raymond Depardon. Mit Ali Hamit, Brahim Jiddi u. a. Frankreich 2002, 105 Min.