piwik no script img

Archiv-Artikel

Maybe this time

Timing-genaues Tanzen, viel Sexappeal, unglaublich schöner Gesang und eine fantastische Band: Am Wochenende hatte in der Bar Jeder Vernunft „Cabaret“ Premiere – und auch ohne Liza Minelli und ohne den Broadway ist und bleibt das Stück ein Knaller

VON JENNI ZYLKA

Langsame Klavierakkorde, eine leise Bläserlinie. Maybe this time, I’ll be lucky, maybe this time he’ll stay … wieder Klavierakkorde, Bläser, Ride-Becken. Maybe this time, for the first time, love won’t hurry away … Dazu Liza Minellis aufgerissene, leicht schräg stehende Riesenaugen unter meterweise hellblau-silbernem Lidschatten, der dunkelbraune Pagenkopf, rote Lippen, ein schwarzes Halsband zum Negligé – das alles hat wirklich JEDER im Kopf.

Egal ob er „Cabaret“ mochte oder nicht, egal ob er zu denen gehört, die mit (oder ohne) ein paar Glas Sekt gerne mal „Willkommen, bienvenue, welcome“ trällern, oder zu denen, die sagen, dass sie Musicals bekloppt finden: „Cabaret“ ist mehr als ein Musical. Es ist Zeitgeschichte, Künstlerschicksal, Lovestory sowieso, es ist gleichzeitig furchtbar amerikanisch und spielt doch in der deutschesten aller deutschen (Haupt-)Städte, während des deutschesten aller deutschen dunklen Flecken in der Vergangenheit.

„Cabaret“ war eine Überproduktion, die 1972 mit Liza Minelli als liebenswert-naiver Sängerin Sally Bowles, Michael York als schwulem und dennoch in Sally verliebten Schriftsteller Brian und Joel Grey als sarkastischem Cabaret-Conférencier in der Filmversion die besten von allen DarstellerInnen gefunden hatte. Starchoreograf Bob Fosse hatte bei der Verfilmung Regie geführt. Vorher gab es schon einige Theateraufführungen des Stoffes von Joe Masteroff. 1966 die erste am Broadway, Kurt Weills Witwe Lotte Lenya spielte darin Brians Zimmerwirtin Fräulein Schneider, den Conférencier gab bereits Joel Grey.

Eben dieser Grey war es dann auch, der am Samstag, klein, vital, gut erhalten und auch ohne weiß geschminktes Gesicht zu erkennen, in einer Ehrenloge der Bar jeder Vernunft saß und sich die Premiere von „Cabaret“ ansah – in der Stadt, in der das Musical vor über siebzig Jahren spielt. Was sah er? Eric Rentmeister als Conférencier, „frisch aus der Folkwang-Hochschule aus Essen“ informierte das Presseinfo, vielleicht um zu erklären, dass eine gewisse Unbeschwertheit die Voraussetzung sein muss, um das Erbe Joel Greys anzutreten. Rentmeister schafft es, spielt mit Glatze und Glitzerkostüm, mit stark geschminkten Augen und knatschiger Stimme sarkastisch und musikalisch genau.

Dann die Cabaret-Girls, „each and everyone a virgin“, wie der Conférencier im Eingangssong witzelte, drei Damen und ein Herr in Damenkleidung, die durch die ganze Show hindurch in gleich hoher Qualität singen und timing-genau tanzen, dicken Zwanzigerjahre-Sexappeal aufgeschminkt haben und so lange mit den verschieden umfangreichen Popos wackeln, bis man selbst mitwackeln möchte. Angela Winkler als Fräulein Schneider, die nicht nur anrührend die Rolle der vereinsamten, verängstigten Zimmerwirtin ausfüllt, deren zweiter Frühling mit einem jüdischen Obsthändler durch die Nazis brutal vereitelt wird, sondern die auch unglaublich schön singt: Sie hat vier Songs, die nicht im Film vorkommen, und meistert sie mit einem dünnen, aber tongenauen und reizenden Stimmchen, das hervorragend zur Rolle passt.

Und die vorrangige TV-Schauspielerin Anna Loos-Liefers als Sally Bowles, die ja nun ebenfalls ein schweres Erbe hat. Im Vorfeld wurde sie mit „habe den Film erst neulich gesehen“ zitiert, und dass man sich nicht fertig machen sollte von wegen Vergleich. Also ist es wohl nicht so schlimm, dass sie ihm tatsächlich nicht standhält: Ihr blasses Charisma verliert sich zwischen dem charmanten, jugendstilartigen Bühnenbild und den tollen Cabaret-Girls, sie versingt sich nicht, aber ob sie die Songs nun bringt oder nicht …

Außerdem sah Joel Grey eine fantastische, rumpelige, originalgetreue Cabaret-Band, mit klasse Percussionsideen, singender Säge, Kontrabass und sämtlichem Pipapo, das die Stimmung in einem 1931-Bums heben konnte, er sah Choreografien, die weder an der typischen, übertriebenen „Ich schrei’s in die Welt hinaus“-Musical-Attitüde krankten, noch doof und simpel waren, sondern hübsch und lustig und clever auf die kleine, kuschelige Bühne des Spiegelzeltes integriert. Und er sah natürlich die gesamte City-West-Prominenz plus, als Zugabe, ein paar PolitikerInnen im Publikum.

Mit dieser „Cabaret“-Inszenierung, könnte Herr Grey schlussfolgern, hat sich die Bar jeder Vernunft eine Menge vorgenommen. Ein Regisseur aus Hollywood, fast nur SpitzendarstellerInnen – das macht angeblich 450.000 Euro, einen Teil davon haben die „Kulturaktionäre“ aufgebracht, private GönnerInnen, die als Mäzene die unsubventionierte Produktion mit finanzierten. Da müssen viele Fans das Zelt füllen. Aber das Stück ist ein Knaller. Ob mit oder ohne Liza.