: Pfadfinder durch die Welt des Erstaunlichen
Der einsame Mensch auf der Bühne: Plötzlich wird er wieder wichtig, neben all den omnipräsenten technischen Bildern. Da zählt Herzenswärmemehr, als Bescheid zu wissen. Im Spiel mit dem Fake und dem Realen auf dem Münchner Theaterfestival Spielart wird Vertrauen zum Künstler gesucht
von SABINE LEUCHT
Auf der Suche nach dem Theater findet man sich auf dem Münchner Hauptbahnhof – und muss sich den Weg dann zeigen lassen. Denn die Performance beginnt da, wohin kaum ein Passant sich verirrt. Vorbei kommt nur: Publikum. Es schaut sich an, wie die Seven Sisters Group die Plateauschuh-Idee auf die Spitze treibt. Überhohe und -breite Kufen haben sie mit ihren Sneakers verschweißt und schreiten darauf in Zeitlupe am Gleis entlang. Um die schlanken Tänzerinnenkörper bauschen sich bunte Stoffe wie Ballons im Wind, der aus der Maschine kommt. Künstlichkeit allenthalben.
Es gibt in München alle zwei Jahre eine Vitaminspritze für den Theatermaniac: Spielart genannt. Zu seinem fünften Erscheinen hat sich das Festival dem Begriffspaar „real and fake“ verschrieben und ihm eigens eine Performance-Reihe gewidmet. Nur: Der reale Ort jedenfalls macht noch nicht das reale Ereignis, auch wenn die „Sisters“ sich später als Geschäftsreisende unters Volk mischen.
Wenige Tage zuvor fand eine Spielart-Pressekonferenz statt: Auf dem Podium im Haus der Kunst aber saßen zwei Wiener „Servicekünstler“, Julius Deutschbauer und Gerhard Spring, und gaben sich als Festivalleiter Tilmann Broszat und Gottfried Hattinger aus. Sie verdrehten für sie und als sie „ihre“ Worte blitzgescheit zu Geschossen mit Bumerangeffekt. Wäre man fremd in München und würde Broszat und Hattinger nicht kennen, man würde die beiden für authentische Witzbolde halten.
Auch der libanesische Historiker, der der Atlas Group seine Notizen und Videos anvertraut hat, könnte als ein Kauz in die Geschichte eingehen, der Autos fotografiert, die optisch mit bereits gezündeten Autobomben identisch sind. Es dauert eine Weile, bis klar wird, dass der Atlas-Gründer Walid Ra’ad nicht in erster Linie Bürgerkriegsforscher, sondern Künstler ist, der mit Hilfe von Fakten zeigt, wie „Wahrheit“ erfunden wird – vor allem in Kriegszeiten oder wann immer den Zwillingstürmen des Altvertrauten der Einsturz droht. Der charismatische Libanese, der bei der documenta 11 auf sich aufmerksam machte, hat neben seinem seriösen Auftreten und immensen Wissen die lautere Absicht im Gepäck, einen vorurteilsfreien Blick auf sein gebeuteltes Land zu befördern. Dafür muss er der Wahrnehmung erst einmal Fallen stellen.
Ganz ähnlich Tim Etchells, Kopf von Forced Entertainment, der in „Instructions for Forgetting“ ebenfalls alleine auf der Bühne sitzt, Filme zeigt und Geschichten erzählt, die Freunde ihm geschickt haben. Egal, ob das Gesendete echt ist oder wieder nur gut erfunden, die Zuneigung zu seinen Stoffen nimmt man Etchells ab. Auch, dass er Ehrfurcht hat vor dem, was andere ihm anvertrauen.
Seltsam, wie der einsame Mensch neben den omnipräsenten technischen Bildern wieder auf neue Weise wichtig wird. Wenn ein Künstler wie Johan Lorbeer im „Proletarischen Wandbild“ waagerecht aus einer Wand ragt oder bei Katazyna Kozyras Installation „The Rite of Spring“ betagte Nackte die Geschlechter tauschen, fragt man allenfalls nach dem Wie. Bei den „lecture performern“ hingegen interessiert stets das Warum. Sie erscheinen neben ihren „Dokumenten“ nicht wie Relikte einer „authentischen“, durch ihre körperliche Anwesenheit allein schon beglaubigten Realität, sondern als Maßstab für die Einschätzung der Bilder selbst. Als Pfadfinder in die Welt des Erstaunlichen oder nur Eigenartigen, die sie uns geöffnet haben, auch wenn sie uns manchmal in die Irre führen. Wir schätzen an ihnen so etwas Altmodisches wie: Persönlichkeit. Oder schreiben sie ihnen zu. So nur ist zu erklären, wie Miriam Reeders zum Festival-Liebling werden konnte. Zu jeder halben Stunde filmte die Holländerin im Gasteig-Foyer, wo sich Spielart-, Philharmonie- und Bibliotheksbesucher begegnen, ihre Comics ab. Und wurde geliebt: für die ernsthafte Verspieltheit ihrer Kunst, aber sicher auch, weil die meisten ihre heitere Freundlichkeit für ungekünstelt hielten.
Jan Ritsema verfügt über weit weniger Charme. Nach seiner Einführung in die (zweifellos brisante) politische und ökonomische Lage der kaspischen Region muss man mit René Pollesch fragen: „Aber wer will die Scheiße auch noch künstlerisch?“ Mit Kollegin Bojana Cvejić hechelt sich Ritsema danach durch eine Diskussion, bei der man kaum etwas versteht. Ein Break, die beiden nesteln an ihren Hosen und reiben – kaum zu glauben – ihre nackten Hintern aneinander. Das rettet nichts mehr: „Pipelines: a Construction“ ist bloß politisch korrekte Langeweile. Da meint jemand, Bescheid zu wissen – ein Kapitalverbrechen für einen, der sich heute auf die Suche nach Realität begibt.
Alles andere als ein Bescheidwisser ist Jewgenij Grischkowez, „Sentimentalist“ aus Russland, der von der Liebe erzählt oder mit ein paar Papierschiffchen von Schiffen im Ersten Weltkrieg. Während er sich von jedem Anschein von Spiel und Theater sofort distanziert – „Ich erkläre die Situation gleich“ –, häuft er erzählend Details auf Details. Ganz schlicht. Bei Grischkowez, Reeders und Etchells entsteht Herzenswärme – ganz real. Dafür ist gar nichts Spektakuläres vonnöten. Nur Ruhe, Zeit und nette Menschen. Und Stoffe, die man gerne banal finden kann.