: Nostalgie für eine Welt, die man nie gekannt hat
Die Begriffsbildung beginnt, als das Motorrad schlapp macht, aber die politischen Leerstellen vermag „Die Reise des jungen Che“ nicht zu füllen
Der Prozess der Politisierung setzt in Walter Salles’ „Die Reise des jungen Che“ ein, als das Tempo der Reise gedrosselt wird. Die Landschaft zieht jetzt nicht mehr nur als überwältigender Hintergrund an den Protagonisten vorüber, der Blick für die Details beginnt sich zu schärfen, und plötzlich treten die geografischen und sozialen Diskontinuitäten in scharfen Konturen hervor. Bei Kilometer 2.940 gibt das klapprige Motorrad, mit dem Alberto Granado und Ernesto Guevara im Jahr 1952 den südamerikanischen Kontinent bereisen, endgültig den Geist auf.
Der Name der Maschine lautet „The Mighty One“, der Allmächtige, und die Stadt, in der die beiden stranden, heißt Los Angeles – die Stadt der Engel. Salbungsvolle Namen sind das, sie klingen, als hätte eine höhere Macht bereits geahnt, welche Bedeutung diese Reise im Leben eines der beiden jungen Männer einmal erlangen würde. Aber es sollen noch einige Jahre vergehen, bis aus dem 23-jährigen Medizinstudenten Ernesto Guevara der Revolutionär Che wird.
Walter Salles’ Che-Guevara-Travelogue befindet sich in einer delikaten Ausgangsposition: Jedes Bild in „Die Reise des jungen Che“ wird überstrahlt von dem ikonischen Porträt Albert Kordas. Ein Vorzustand der Unschuld, wie Salles ihn heraufbeschwört, ist im Grunde nur durch einen konsequenten Bruch mit der Biografie des späten Che Guevara möglich. Salles steht vor der schwierigen Aufgabe, eine widersprüchliche Biografie – den Wandel vom selbstlosen Freiheitskämpfer zum totalitären Stalin-Bewunderer – mit einem Prequel zu ebnen. Doch man kann sich den schüchternen jungen Mann (gespielt von Gael García Bernal), der beim Tango über seine eigenen Füße stolpert und von Asthmaanfällen geplagt wird, weder als den einen noch als den anderen vorstellen. Die Geschichte des Medizinstudenten Ernesto Guevara unvoreingenommen zu erzählen, bedeutet automatisch, den populären Mythos des Freiheitskämpfers Che fortzuschreiben. Dabei folgt der Film durchaus einer chronologischen Logik. Erst in den 80er-Jahren wurden die Tagebücher Ernesto Guevaras gefunden, auf denen „Die Reise des jungen Che“ zur Hälfte basiert; die andere Hälfte bezieht sich auf Granados Reiseerinnerungen.
Obwohl „Die Reise des jungen Che“ die Leerstellen der politischen Geschichte nicht zu füllen vermag, gelingt Salles die Schilderung einer politischen Begriffsbildung. Unscharf und unbewusst ist dieser Begriff zunächst, bis er am Ende einer beschwerlichen Reise artikulierbar geworden ist: „unser Amerika“. Der Geist, der aus diesem „unser“ spricht, fühlt sich solidarisch mit den Bauern, den enteigneten Bergleuten, den kommunistischen Hilfsarbeitern und den Indígenas, die Guevara und Granado (Rodrigo de la Serna) im Gebirge entgegenströmen: Sie sind heimatlos in ihrer eigenen Heimat. „Ihre Kuh ist ja blind“, bemerkt Ernesto einmal gegenüber einem verarmten Bauern. „Und?“, entgegnet der Bauer, „alles, was sie sehen würde, ist Scheiße.“
Salles entwickelt die langsame Politisierung Che Guevaras aus den Verwerfungen der Landschaft, ihren Bewohnern und stilisierten Stillleben, die an amerikanische Folk-Fotografien aus den 40er-Jahren erinnern. Je tiefer Ernesto und Alberto in die nur scheinbar unberührte Natur der Anden vordringen, desto mehr verändert sich ihr Verhältnis zu dem Land, einem mythisch aufgeladenen Amerika. „Die Reise des jungen Che“ ist auch eine Reise durch die südamerikanische Gesellschaft, von der argentinischen Mittelklasse in Buenos Aires bis hinunter zu den Klassenlosen, den Kranken in der Leprakolonie San Pablo in Peru. „Eine Revolution ohne Waffen“, sagt Ernesto einmal, „das funktioniert niemals.“ Aber die Pistole, die ihm sein Vater vor der Abfahrt heimlich gegeben hat, bleibt ungenutzt. Einmal fliegt ein Stein, das ist alles.
Am Ende haben sich die Landschaft und die Vorstellung von ihr verändert, und sie hat Veränderung bewirkt. Vielleicht spricht aus Salles’ Film, aus seiner Weigerung einer kritischen Positionierung und aus der naiven Sentimentalität in den Gesten Gael García Bernals auch nur Godards totzitierte Forderung, keine politischen Filme, sondern Filme politisch zu machen. „Ist es möglich“, fragt Ernesto beim Anblick des Macchu Picchu, „Nostalgie für eine Welt zu verspüren, die ich niemals gekannt habe?“ Es ist diese Erkenntnis eines Mangels, die das politische Subjekt erst konstituiert.
ANDREAS BUSCHE