: Niederlage für die Schoßhunde
AUS STRASSBURG UND BRÜSSEL BÄRBEL NÜCKLES UND DANIELA WEINGÄRTNER
Mit glänzenden Augen, aufgeregt wie Kinder vor der Bescherung warteten die Abgeordneten gestern in Straßburg auf den neuen Kommissionspräsidenten. Das Hohe Haus summte wie ein riesiger Bienenschwarm, als José Manuel Barroso Punkt elf Uhr auf seinen Platz zusteuerte. „Ich bin zu folgendem Schluss gekommen: Wenn heute abgestimmt würde, wäre das Ergebnis weder für die europäischen Institutionen noch für das europäische Projekt positiv.“ Er brauche mehr Zeit, müsse sich mit den Regierungschefs erneut beraten, „damit wir eine starke Unterstützung für die neue Kommission erreichen“.
Diese schlichten Worte lösten unbeschreiblichen Jubel aus. Sogar die konservativen Abgeordneten, die ihrem Parteifreund Barroso bis zuletzt die Treue gehalten hatten, freuten sich mit. Der stets etwas hölzern wirkende Parlamentspräsident Josep Borrell hatte seine große Stunde: „Wir betreten hier politisches Neuland. Wenn es keinen Vorschlag gibt, kann das Parlament auch nicht abstimmen.“
Einige Euroskeptiker versuchten, die allgemeine Verwirrung auszunutzen, und stellten Geschäftsordnungsanträge: Da das Parlament völlig ineffektiv sei, müsse es aufgelöst werden. Martin Schulz, dem Vorsitzenden der sozialistischen Fraktion, gingen die Gäule durch. Er schüttelte die Faust in Richtung der Kollegen von der Euroskeptiker-Fraktion und brüllte: „Schmeißt die Chaoten raus!“ Grünenchef Daniel Cohn-Bendit war sichtlich in seinem Element. Sein strahlendes Gesicht schien zu sagen: Endlich ist hier mal was los!
Vierundzwanzig Stunden zuvor war die Stimmung im Plenum wesentlich gedämpfter gewesen. Der künftige Kommissionspräsident hatte noch einmal deutlich gemacht, dass er das Europaparlament nicht als eine erwachsene Institution betrachtet, mit der man rechnen muss. Mit zwanzig Minuten Verspätung war er auf seinem Platz erschienen und hatte den Abgeordneten ungerührt vorgetragen, was er seit Wochen erklärt: Er habe ein erstklassiges Team mit vielen Vorzügen zusammengestellt. Er sei dem Parlament entgegengekommen und habe Garantien für den Fall gegeben, dass ein Kommissar in Interessenkonflikte gerate.
„Ich appelliere an Ihr europäisches Verantwortungsbewusstsein, dieses Kollegium zu bestätigen!“, rief der Portugiese mit den guten Nerven den Parlamentariern zu. Der Frauenanteil sei hoch, die Zusammensetzung aus christdemokratischen, liberalen und den Sozialisten nahe stehenden Kommissaren ausgewogen. „Ich habe Ihren wichtigsten Anregungen Rechnung getragen. Das Wechseln von Zuständigkeiten würde mehr Probleme schaffen als lösen.“ Der Machtmensch Barroso appellierte an den Machtinstinkt seiner Zuhörer und warnte sie vor den Folgen, sollten sie seinen Kompromiss ausschlagen. Bei einem Wechsel der Mannschaft, so seine Botschaft, hätten die meisten mehr zu verlieren als zu gewinnen.
Die Worte richteten sich vor allem an die 88 liberalen Abgeordneten. Von ihrem Wahlverhalten schien abzuhängen, ob eine knappe Mehrheit für oder gegen das Barroso-Team zustande käme. Mit drei liberalen Frauen, die in den Anhörungen besonders schwach abgeschnitten hatten, würden sie – so Barrosos Kalkül – bei einer Umbildung der Kommission besonders viel zu verlieren haben.
Ein Elefant war auch dabei
Doch die Aussprache, die dieser Erklärung folgte, lief nicht gut für ihn. Nacheinander standen die Abgeordneten auf und begründeten, warum sie nicht für das Barroso-Team stimmen könnten. Die Konservativen, die vor diesem Schritt warnten, weil er darauf hinauslaufe, den umstrittenen Italiener Rocco Buttiglione wegen seiner religiösen Überzeugungen zu diskriminieren, gingen in den Unmutsbezeugungen unter.
„Ein unsichtbarer Elefant steht im Raum“, raunte Graham Watson, der Vorsitzende der liberalen Fraktion. Damit meinte er die Regierungschefs, „die Ihnen schlechtere Kommissare geben, als Sie verdienen“. In den Fluren hatte das Gerücht, Schröder, Zapatero und Blair hingen nur noch am Telefon, um ihre Kandidaten zu retten, längst ein Eigenleben entwickelt. Der sozialistische Fraktionsvorsitzende Martin Schulz ergänzte süffisant: „Der Rat fühlt sich durch die niederländische Königin Beatrix ausreichend vertreten – wir sollten das zur Kenntnis nehmen …“
Die Regentin, die als Vertreterin der derzeit amtierenden Ratspräsidentschaft dem Parlament einen Höflichkeitsbesuch abstattete, wirkte im formellen Kostüm und dem riesigen cremefarbenen Hut reichlich deplatziert. Mit Trippelschritten, als versuche sie, einem Wespennest auszuweichen, ging sie zum Rednerpult und las das vorbereitete Manuskript, das angesichts der Lage wie eine Beschwörung klang: „Wenn wir aus der Union keinen Turm von Babel machen wollen, müssen wir alles daransetzen, einander zu verstehen.“
Doch es half alles nichts. Als die Liberale Silvana Koch-Mehrin am Dienstagabend zur entscheidenden Sitzung ihrer Fraktion eilte, traf sie die Stimmung unter ihren Parteifreunden: „Er glaubt wohl tatsächlich, dass er so davonkommt.“ Als José Manuel Barroso später ebenfalls den Weg zum Sitzungssaal der Liberalen einschlug, hatte er das Ergebnis der Probeabstimmung dort offensichtlich schon übermittelt bekommen. Bleich und regungslos, mit wächserner Miene eilte der sonst stets lächelnde Mann in den Saal, in dem sich kurz zuvor zwei Drittel der Abgeordneten gegen sein Team ausgesprochen hatten.
Dieses Ergebnis ließ wohl auch bei Silvio Berlusconi die Alarmglocken läuten. Der italienische Regierungschef ist seit einem heftigen Wortwechsel in Straßburg, wo er Martin Schulz mit einem KZ-Aufseher verglich, nicht gut auf den deutschen Sozialisten zu sprechen. Doch sein sicherer Machtinstinkt sagte ihm, dass sein Kandidat Rocco Buttiglione nicht mehr zu halten war – so bitter ihn dies auch ankommen mochte. Papstfreund Buttiglione aber schaltete auf stur. Noch gestern Morgen saß er unbeirrt lächelnd, mit verschränkten Armen auf der Kommissionsbank und signalisierte: Und wenn die ganze Kommission deswegen stürzt – ich rühre mich hier nicht weg.
Einigen seiner Kollegen war der Verdruss über die dadurch entstandene Sackgasse anzusehen. Neil Kinnock, der mit der Prodi-Kommission nun bis auf weiteres kommissarisch weiterarbeiten muss, hatte sich schon auf den Ruhestand gefreut. Er hockte neben Buttiglione auf den Treppenstufen und grollte. Mariann Fischer Boel und Neelie Kroes, die beiden liberalen Wackelkandidatinnen, hielten sich Trost suchend aneinander fest. Eine neue Runde im Personalpoker könnte für sie das Aus bedeuten.
Günter Verheugen, unumstrittenes Mitglied der alten und der neuen Kommission, hat eigentlich nichts zu befürchten. Doch teilte er dem Handelsblatt sein Unbehagen daran mit, dass er demnächst einem Team angehören könnte, das weder die Liberalen noch die Sozialisten im Europaparlament hinter sich weiß. „Es sieht blöd aus, wenn die sozialdemokratischen Kommissare damit in eine rechte Ecke gedrängt werden“ klagte er.
Cohn-Bendit zitiert Mao
So waren am Ende fast alle froh, dass der Portugiese seinen Instinkt für politische Kräfteverhältnisse gerade noch rechtzeitig wiedergefunden hatte. In der ihm eigenen theatralisch-gerührten Haltung donnerte der Konservative Hans-Gert Pöttering: „José Manuel Durão Barroso hat heute eine Initiative ergriffen!“ Johlendes Gelächter eines ob seiner neu gewonnenen Machtfülle leicht hysterischen Parlaments antwortete ihm.
Daniel Cohn-Bendit konnte der Versuchung nicht widerstehen, den historischen Tag mit einem kleinen Bonmot zu würdigen: „Ich möchte, Herr Barroso, mit den Worten Maos zu Ihnen sprechen, der gemeinsamen Sprache unserer beider politischer Vergangenheit: Die Niederlage verstehen heißt, den Sieg vorzubereiten! Wir wollen starke Kommissare und nicht Schoßhunde der Regierungen!“
Die Entscheidung sei der sozialistischen Fraktion schwer gefallen, sagte ein sichtlich von den dramatischen Entwicklungen überwältigter Martin Schulz. „Die sozialdemokratischen Freunde waren die herausragenden Figuren der vorgeschlagenen Kommission!“ Für diese kühne Behauptung erntete auch Schulz den Spott des Hohen Hauses. Dann aber gab er Barroso noch eine Warnung mit auf den Weg: „Dieses Haus hat Sie im Juli mit 413 Stimmen ins Amt gewählt. Setzen Sie dieses Vertrauen nicht aufs Spiel, kommen Sie nicht mit der gleichen Kommission wieder zu uns zurück!
Und sein Fraktionskollege Watson ergänzte: „Sie haben gestern angedeutet, es sei antieuropäisch, gegen Ihr Team zu stimmen. Am heutigen Tag hat der Euroskeptizismus eine Niederlage erlitten. Wenn wir schwach sind, sind auch Sie es. Unsere Stärke ist Ihre Stärke, Herr Barroso!“ Am Freitag werden die Staats- und Regierungschefs in Rom zusammenkommen, um die neue Verfassung zu unterzeichnen und das Personalpaket für die Kommission neu auszuhandeln. Watsons Satz dürfte ihnen dabei in den Ohren klingen.