Migräne? Senfmehl!

Die Zeit zwischen den Anfällen kennzeichnet eine Migräne, sagt der anthroposophische Arzt Andreas Rivoir und setzt auf Vorbeugen

Interview MARTINA JANNING

taz: Herr Rivoir, Sie haben einen Migräne-Ratgeber geschrieben – warum? Gibt es nicht schon genug?

Andreas Rivoir: Es gab noch keinen Ratgeber, der aus anthroposophischer Sicht etwas zu Migräne sagt.

Was ist das Besondere am anthroposophischen Ansatz bei der Migräne?

Der schulmedizinische Ansatz wird um die Dimension des Seelisch-Geistigen erweitert. Aus meiner Sicht ist Migräne eine Erkrankung, bei der man besonders auf das Intervall blicken sollte – also wenn man sich eigentlich gesund fühlt. Schlägt das Pendel zwischen Innen- und Außenaktivität zu stark nach außen, dann tritt als Folge irgendwann eine Migräneattacke ein, auf der Grundlage einer konstitutionellen Veranlagung natürlich. Heutzutage ist der Blick immer darauf gerichtet, die Attacke zu unterdrücken. Doch die Migräneattacke ist nur eine Art Rettungsversuch des Körpers, bei dem er sagt: Stopp, bis hier her und nicht weiter. Jetzt ist Rückzug aus der Aktivität, Verdunkelung und Hinlegen erforderlich. Meiner Ansicht nach muss man bei den Intervallen ansetzen, um eine Migräne zu heilen.

Was ist entscheidend in der Zeit zwischen den Anfällen?

Ich rate einem Patienten, sich anzuschauen, wie er mit sich umgeht. Was tut er für andere, was tut er für sich, wo sagt er Ja, wo Nein. Oft liegt bei dieser Krankheit eine Neigung dazu vor, alles nicht nur hundertprozentig, sondern eher hundertfünfzigprozentig zu erledigen. Das zeigt sich in der Außenaktivität, im Dasein für andere, darin, Dinge nicht liegen lassen zu können, etwas leisten zu wollen. Das sind zwar alles auch Fähigkeiten, aber man darf sich dabei nicht verlieren.

Es gibt also eine Art Migränepersönlichkeit?

Das ist zumindest meine Wahrnehmung. Ich habe noch keinen Patienten erlebt, der gesagt hat, bei mir ist das ganz anders, gerade bezüglich der Perfektion. In der wissenschaftlichen Literatur existieren hierzu unterschiedliche Angaben. Es treffen bei einer Migräne aber immer zwei Dinge aufeinander: eine gewisse leibliche Grundlage und eine komplexe seelische Konstellation.

Wie kann ein Patient einer Migräne vorbeugen?

Indem er ein Schmerztagebuch führt, indem er schaut, was die Auslöser bei ihm sind, wann er Migräne bekommt. Es gibt ja hunderte von Situationen, in denen eine Attacke auftreten kann. Dann kann der Patient begleitet durch seinen Arzt einen individuellen Behandlungsweg gehen.

Wie hilft die anthroposophische Medizin bei einer Attacke?

Eine Migräneattacke lässt sich mit der anthroposophischen Medizin besonders im Vorfeld behandeln. Wenn ein Patient rechtzeitig merkt, dass eine Migräne kommt, kann er sie zum Beispiel durch ein Fußbad mit Senfmehl oder kühle Auflagen auf die Stirn mit Rosmarinöl abfangen. Außerdem gibt es verschiedene anthroposophische Medikamente, die eingenommen werden können. Nicht immer gelingt damit jedoch eine ausreichende Schmerzlinderung. Die Domäne der anthroposophischen Medizin liegt meiner Ansicht nach nicht in der Behandlung der Attacken, sondern in der vorbeugenden Therapie. Diese umfasst neben Medikamenten auch Heileurythmie, Kunsttherapie und Rhythmische Massage. Das Wichtigste jedoch ist die Arbeit an sich selbst: Wie gehe ich mit meinen Außenaktivitäten um, wie stelle ich mich in die Welt.

Doch im Zweifelsfall greifen Sie auf die Schulmedizin zurück?

Mein Anliegen ist, das richtige Medikament zur rechten Zeit passend zu der Erkrankung des Patienten anzuwenden. Es kann deshalb durchaus sein, dass ich bei einer schweren Migräneattacke Triptan, ein heute gängiges Scherzmittel, verschreibe. Auch wenn sich mit der Intervallbehandlung nach längerer Zeit zu wenig oder gar nichts erreichen lässt, verordne ich im Einzelfall ein konventionelles Medikament. Wichtig ist ebenfalls, welche Einstellung der Patient zu seiner Erkrankung hat. Betrachtet er sie nur als lästig, wie eine Art Betriebsunfall, bin ich eher geneigt, auch konventionelle Medikamente einzusetzen. Es gibt also kein Entweder-oder.

Zu den Naturheilmitteln: Was ist der Unterschied zur Homöopathie?

Ein Homöopath schaut besonders auf die individuellen Krankheitssymptome, besteht eine Migräne mit Aura oder ohne, ist der Patient dabei blass oder rot im Gesicht. Er sucht dann nach einem speziellen für diese Frau oder diesen Mann geeignetes Medikament. Ein anthroposophischer Arzt blickt zusätzlich auf den Krankheitsprozess. Er versucht das Wesen der Krankheit zu verstehen. Dann schaut er in die Natur, ob etwas eine Verwandtschaft zu dem Krankheitsprozess aufweist: eine Pflanze, ein Mineral, eine tierische Substanz. Damit kann er dann den Organismus anregen, um die Krankheit zu überwinden.

Zahlen die gesetzlichen Krankenkassen anthroposophische Arzneimittel?

Bis Ende dieses Jahres ja. Danach fallen alle nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel durch die Gesundheitsreform aus der Erstattung heraus. Ausnahmen sind Medikamente für Kinder und Jugendliche.

Adressen anthroposophischer Ärzte finden sich im Internet unter:www.anthroposophischeaerzte.de