Die Grenze des Bleistiftgebiets

Ausgerechnet zum 125. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers Robert Walser droht der Carl-Seelig-Stiftung in Zürich das Geld auszugehen. Damit steht das Robert-Walser-Archiv, das nicht nur verwaltet, sondern forscht, publiziert und eine internationale Begegnungsstätte darstellt, beinahe vor dem Ende

von OLIVER RUF

Carl Seelig trifft am 26. Juli 1936 einen Dichter, der ihn frappiert: „Ein rundes, wie durch einen Blitzschlag gespaltenes Kindergesicht mit rot angehauchten Backen, blauen Augen und einem kurzen, goldenen Schnurrbart. Die Schläfenhaare schon angegraut. Der ausgefranste Kragen und die Krawatte etwas schief sitzend; die Zähne nicht in bestem Zustand.“ Robert Walser befindet sich zu diesem Zeitpunkt als Patient in der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt von Appenzell-Außerrhoden im Schweizerischen Herisau. Dort besucht ihn der Journalist und Mäzen Carl Seelig, weil er das Bedürfnis empfand, für die Publikation Walsers Werke und für ihn selbst etwas zu tun. Unter allen zeitgenössischen Schriftstellern der Schweiz schien Walser ihm die eigenartigste Persönlichkeit zu sein.

Aus diesem Anliegen sind später nicht nur Seeligs „Wanderungen mit Robert Walser“ entstanden, die der Suhrkamp Verlag gerade neu aufgelegt hat – sondern daraus resultierte ferner eine große Spaziergänger-Freundschaft. Als 11 Jahre nach Seeligs Tod und 17 Jahre, nachdem Walser zu Weihnachten 1956 der Schlag im Schneefeld der Wachtenegg trifft, das Robert-Walser-Archiv in Zürich gegründet wurde, war das eine Folge jener freundschaftlichen Bande.

Seither werden hier Materialien zum Leben und Werk Robert Walsers sowie Carl Seeligs und der ihnen verbundenen Menschen gesammelt, konserviert, erschlossen und ediert. Das betrifft vor allem ihrer beiden Nachlässe, also Handschriften, Manuskripte und Korrespondenzen, aber auch die Nachlässe von Hugo Ball und Emmy Hennings, die Papiere von Ossip Kalenter und zwei Friedrich-Glauser-Sammlungen. Hinzu kommen primäre und sekundäre Titel, Druckschriften, Pressebeiträge, Bild- und Tonträger. Wissenschaftler, Studierende und andere Interessenten haben grundsätzlich die Möglichkeit, die Bestände unter Aufsicht und mit Beratung zu sichten. Ausstellungen wie zu Emmy Hennings im Zürcher Museum Strauhof (anschließend Literaturhaus Berlin und Museum Flensburg) oder die Walser-Retrospektive in der Zürcher Zentralbibliothek werden aus dem Archiv bestückt, das als Geschäftsstelle der Robert-Walser-Gesellschaft fungiert.

Das größte Verdienst wurde dort indes mit der Entzifferung von Walsers rätselhaften Mikrogrammen geleistet, die Seelig selbst Ende der Fünfzigerjahre noch eine „selbst erfundene, unentzifferbare Geheimschrift“ nennt und die ihm Walsers Schwester Lisa in einem Schuhkarton übergeben hat. Die Entschlüsselung der höchstens anderthalb Millimeter kleinen Kurrent- und Sütterlinschrift dauerte letztendlich 20 Jahre und offenbarte ein bemerkenswertes Spätwerk Robert Walsers. Mittlerweile liegt in sechs Bänden dechiffriert vor, was Walser zwischen 1924 und 1932 per „Bleistiftmethode“ verfasste: Verse, dramatische Szenen und „Prosastückli“.

Bernhard Echte, der Leiter des Zürcher Archivs, der auch das Projekt „Aus dem Bleistiftgebiet“ zum Abschluss brachte, hat jüngst weitere Prosa, überwiegend Zeitungsartikel aus den Zwanzigerjahren, entdeckt und sie pünktlich zu Walsers 125. Geburtstag in diesem Jahr herausgegeben. Walsers Texte zur Schweiz hat Echte kürzlich in einer zweiten Auswahlausgabe mit dem flotten Titel „Europas schneeige Pelzboa“ versammelt.

Angesichts des Robert-Walser-Jahres 2003, das beispielsweise Suhrkamp mit den genannten Veröffentlichungen und der Fernsehsender 3.Sat mit einer mehrteiligen Sendereihe begangen haben, verwundern die aktuellen Geschehnisse in Zürich. So ist das Vermögen der Carl-Seelig-Stiftung, die das Robert-Walser-Archiv trägt und finanziert, fast in Gänze aufgebraucht. Den Versuchen in der Vergangenheit, Gelder aufzutun, war kein Erfolg beschieden. Nun wird mit bis zu 80.000 Franken Defizit pro Jahr gerechnet. Jetzt können sogar die laufenden Kosten nicht mehr gedeckt werden.

Freilich könnten Nachlässe und Bestand ins Depot wandern. Die Probleme lediglich in Schachteln zu packen kann und darf allerdings nicht die Lösung für ein Archiv sein, das forscht, publiziert und eine internationale Begegnungsstätte darstellt. Schließlich ist Walsers Lebenswerk nur durch das aktive Engagement des Archivs wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gelangt. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass übermorgen neue Texte auftauchen. Robert Walser schreibt immer noch weiter. Ob wir dies jemals werden lesen können, hängt in erster Linie vom Weiterbestehen des Walser-Archivs ab. Und auch für den Erfolg der Hugo-Ball-Gesamtausgabe, die Bernhard Echte mit dem Tagebuch „Die Flucht aus der Zeit“ im nächsten Frühjahr eröffnen soll, ist ein funktionstüchtiges Archiv zweifellos vonnöten.

Liquide Mittel sind jedoch nur noch für ein Dreivierteljahr vorhanden. Wenn bis dahin kein finanzieller Grundstock gelegt wurde, droht dem Archiv die Existenz als totes Lager. Das Personal müsste entlassen werden, die Aktivitäten um die betreuten Nachlässe, in denen sicherlich noch manche Überraschung schlummert, wären vorerst eingefroren. Damit es so weit dann doch nicht kommt, hat sich ein Unterstützungskomitee gegründet, das Kontakte zur Wirtschaft herstellen will. Das bedeutet gleichwohl nicht, dass man die öffentliche Schweizer Hand aus der Verantwortung entlassen möchte. Langfristig hofft das Archiv darauf, einen neuen Kapitalbetrag zu erhalten, von dessen Zinsen die Einrichtung in Zukunft leben mag. Von 5 bis 7 Millionen Schweizer Franken ist die Rede. Zumindest werden 300.000 Franken jährlich benötigt, um einen angemessenen Betrieb aufrechtzuerhalten.

Das könnte gleichzeitig heißen, dass das Robert-Walser-Archiv beziehungsweise die Carl-Seelig-Stiftung gegebenenfalls gezwungen ist, sich für einen Partner zu entscheiden, der sich außerhalb der Schweiz befindet, und dass deshalb die Bestände die Eidgenossenschaft womöglich verlassen.

Hermann Hesse befand einmal: „Die Schweiz ist Robert Walser alles schuldig geblieben.“ Offenbar gilt längst nicht für alle Schweizer, was Carl Seelig sich vorgenommen hatte: „Sein eigenwilliges Wesen und seine Anschauungen wahrheitsgetreu zu überliefern, musste für mich das oberste Gesetz sein.“