Die Macht der Angst

Das politische System der USA befindet sich in einer tiefen Krise. Denn der Krieg im Irak verschleiert eine grundlegende Umwälzung, die die Demokratie aushöhlt – indem sie den Machtmissbrauch salonfähig macht und Bürgerrechte beschneidet

Der Kongress muss zu seiner historischen Rolle als Kontrollinstanz der Regierung zurückfinden

VON SASKIA SASSEN

Der Krieg gegen den Irak ist, neben allen anderen Dingen, vor allem eins: die Verschleierung einer tief gehenden strukturellen Umwälzung des politischen Systems der USA. Der liberale Rechtsstaat, so unvollkommen er auch immer war, verliert gerade seine Grundlagen.

All unsere Aufmerksamkeit gilt gegenwärtig dem Schrecken des Kriegs gegen den Irak. Und tatsächlich: Dieser Krieg ist tragisch – wie Krieg immer tragisch ist. Die meisten Toten und das meiste Leid finden sich unter den Irakis, aufseiten der Amerikaner sind meist junge Frauen und Männer der Unterschicht die Betroffenen. Mir soll es hier aber nicht um diese Tragödie gehen. Wenn ein Ereignis so viel Aufmerksamkeit bekommt, produziert es eine penumbra, den Effekt eines Halbschattens, der vieles verschleiert. Die meisten Amerikaner glauben, der Krieg im Irak beherrsche die augenblickliche geschichtliche Situation. So rechtfertigt die Bush-Regierung ihre Politik der Angst: „Wir sind im Krieg.“ Doch der Krieg gegen den Irak verdeckt eine wesentlich tiefer gehende Transformation, und die Politik der Angst ermöglicht es der Regierung, diese Umwälzung durchzusetzen.

Diese Umwälzung bedroht das Prinzip der Gewaltenteilung. Das Verhältnis von Exekutive, Legislative und Judikative wird grundlegend verändert. Die Exekutive ist zum stärksten Arm des amerikanischen Staates geworden. Sie hat enorme Macht angesammelt, entzieht immer mehr Entscheidungen dem Licht der Öffentlichkeit und hat eine privatisierte Form von Machtausübung entwickelt. Die Legislative dagegen, die „Gewalt des Volks“, hat viel von ihrer Macht verloren und ist nicht länger in der Lage, die Aufgabe zu erfüllen, die ihr laut Verfassung zusteht: die Exekutive zu kontrollieren. Im Gegenteil: Die Exekutive kontrolliert und benutzt die Legislative. Die Legislative sollte außerdem in der Lage sein, Gesetze zu machen, doch das passiert immer seltener. Die Judikative, die dritte Gewalt, insbesondere der Oberste Gerichtshof, übernimmt mehr und mehr beide Aufgaben, die Überwachung der Exekutiven und die Schaffung neuer Gesetze. Allerdings ernennt die Exekutive die Richter. Deshalb wird der Oberste Gerichtshof von einer republikanischen Mehrheit dominiert. Dass dieser Gerichtshof einige Urteile gegen die Bush-Administration gefällt hat (in einigen der Guantánamo-Fälle etwa), ist kein Zeichen von Neutralität. Der Machtmissbrauch war schlicht so eklatant, dass selbst dieser Gerichtshof reagierte.

Nun ist die Legislative immer bedroht, das Parlament immer die schwächste der drei Gewalten. Trotzdem kann sie Geschichte machen. Wie in den 60er Jahren, als sie die Civil Rights Acts verabschiedete, oder in den 70ern, als sie die Amtsenthebung von Richard Nixon in die Wege leitete. Sie kann die Macht der Exekutive kontrollieren: das Militär und die Entscheidung, in den Krieg zu ziehen. Das heißt: das Justizministerium und dessen Macht, die Bürger zu überwachen, Menschen abzuschieben, Folter zu erlauben. Außerdem kann sie die Macht der Konzerne einschränken.

So wie ich diese Transformation verstehe, spielt die neoliberale Globalisierung die entscheidende Rolle. Sie erlaubte es der Exekutive, eine ganz neue Ebene von Macht und Machtmissbrauch zu erreichen. Privatisierungen und Deregulation gelten gemeinhin als Maßnahmen, die den Staat schwächen. Ich glaube jedoch, dass es sich ein wenig anders verhält. Die neoliberale Politik, zu privatisieren, was in der öffentlichen Hand war, und zu deregulieren, was sich unter öffentlicher Kontrolle befand, hat vor allem die Legislative Macht und Einfluss gekostet. Die Exekutive dagegen hat an Macht gewonnen. Wenn privatisiert und dereguliert wird, geschieht dies unter der Aufsicht von speziellen Kommissionen der Exekutive. Die Legislative dagegen hat wenig formale Macht und wenige Abgeordnete, dies zu überwachen. Das läuft darauf hinaus, dass der Exekutive innerhalb des demokratischen Systems mehr Macht gegeben wird. Zum anderen bedeutet es, dass die Ungleichgewichtung innerhalb des Staates immer stärker zunimmt. Die Legislative hat immer weniger effektive Macht, weil die Kontrollfunktionen entweder vom freien Markt wahrgenommen oder den Kommissionen zugeschlagen werden, die der Exekutive angegliedert sind.

Dies gilt im besonderen Maße für die Bush-Regierung. Sie hat in den letzten drei Jahren enorme Macht auf sich vereint, und sie hat zugleich die Zahl der Regierungsdokumente, die der Geheimhaltung unterliegen, um 50 Prozent erhöht. Darüber hinaus bekommen selbst die Mitglieder des Kongresses, die berechtigt wären, geheime Dokumente einzusehen, oft nur bearbeitete Versionen zu Gesicht, in denen die entscheidenden Passagen geschwärzt sind. In diesem Ausmaß ist das eine neue Entwicklung. Die Öffentlichkeit, Journalisten wie Politiker, haben sehr viel weniger Zugang zu Regierungsinformationen.

Durch den Patriot Act hat die Regierung viele Bürger- und Menschenrechte abgeschafft. Bisher wurden die Regulierungskommissionen durch Vertreter der Legislative überwacht. Nun sind sie private Kommissionen, die hinter verschlossenen Türen arbeiten und ihre Arbeit vor dem Kongress geheim halten – wie die berühmt-berüchtigte Energiekommission, die vom Vizepräsidenten Dick Cheney geleitet wird. Es gibt viele kleine Veränderungen; alle zusammen addieren sich zu einer Krise des liberalen Rechtsstaats. Einige Beispiele: Im Oktober 2003 beschloss der Kongress, das Total Information Awareness Project (TIA) zu stoppen, einen Plan des Pentagons, große Mengen von Information über alle Menschen in den USA auf Hinweise für terroristische Aktivitäten zu durchleuchten. Eine Entscheidung, die zunächst wie ein Sieg für den Schutz der Privatsphäre aussah, denn jedem war klar, dass diese seit dem 11. September 2001 gelitten hatte. Worauf diese Entscheidung hinauslief, war jedoch das glatte Gegenteil: Das Pentagon übernahm das Projekt in sein Geheimbudget, das heißt, es gibt nun überhaupt keinen Einblick mehr.

Noch ein Beleg für diese Arroganz der Macht: Die amerikanische Regierung hat ein Programm entwickelt, das die Zusammenarbeit mit ausländischen Regierungen und den Austausch von Informationen über Terrorverdächtige regelt. Dieses Programm nennt sich Multistate Antiterrorism Regional Information X(Ex)change System, kurz: Matrix. Als wäre es nicht genug mit der Anspielung auf den Film, der immerhin von einem System absoluter Kontrolle handelt, wird dieses System von einer Privatfirma namens Sesint betrieben, die ihren Sitz ausgerechnet in Florida hat, wo George W. Bushs Bruder Gouverneur ist. Das sind natürlich Zufälle. Aber diese Firma hat einen „Terroristenindex“ zusammengestellt, der die Daten von 120.000 Personen umfasst. Alter, Geschlecht, Herkunft, Informationen über ihre Kreditkarten, über Piloten- und Autoführerscheine, Verbindungen zu Adressen, die von Verdächtigen benutzt worden sind. Diese Datensammlung ist eines der wichtigsten Instrumente im Kampf der Regierung gegen die terroristische Bedrohung.

Durch den Patriot Act und seine Durchführungsbestimmungen hat die Regierung die Überwachung der Gespräche zwischen Anwalt und Klient erlaubt, das Ausspionieren von Gottesdiensten und von Treffen politischer Gruppen, das Sammeln von Informationen darüber, wer welche Bücher aus Bibliotheken ausgeliehen hat.

Zwei Aspekte des Patriot Act möchte ich besonders hervorheben. Zum einen steht er für die Legalisierung des Missbrauchs staatlicher Macht. Zum anderen hat die Bush-Regierung aber nicht nur die Rechte vieler Bürger missbraucht, sie ist noch weiter gegangen und hat selbst diesen ohnehin schon missbräuchlichen Patriot Act missbraucht.

Einige Beispiele: Im Juni dieses Jahres sprach eine Jury in Idaho Omar al-Hussayan frei, einen Studenten, der angeklagt war, den Terrorismus unterstützt zu haben, weil er auf seiner Webseite Links zu Seiten gesetzt hatte, auf denen terroristische Aktionen gebilligt wurden. Die Staatsanwaltschaft hatte nicht einmal behauptet, geschweige denn bewiesen, dass er den Terrorismus fördern wollte. Sie setzte schlicht voraus, dass jeder Link zu einer Seite, die mit dem Terrorismus sympathisiert, eine Verletzung des Patriot Acts sei, der jede Art von Unterstützung für „ausgewiesene Terroristen-Seiten“ verbietet. Selbst die New York Times hat solche Links auf ihrer Seite: zu den letzten Verlautbarungen von Ussama Bin Laden etwa.

Ein anderer Fall ist der von Khader Hamide und Michael Shehadeh, zwei Palästinensern, die seit 25 Jahren in Kalifornien leben. In dieser Zeit ließen sie sich nie etwas zuschulden kommen. Die Bush-Regierung möchte sie nun gemäß dem Patriot Act des Landes verweisen, weil sie in den 80ern das Magazin einer PLO-Fraktion vertrieben. Die Staatsanwaltschaft bestreitet nicht, dass der Vertrieb damals vollkommen legal war oder dass die Hefte selbst legal sind und in jeder Bibliothek des Landes für jedermann einzusehen sind. Trotzdem besteht sie darauf, dass es unter dem Patriot Act möglich sei, nachträglich zwei Palästinenser für etwas abzuschieben, das für jeden Amerikaner durch den ersten Verfassungszusatz der freien Meinungsäußerung geschützt ist.

Nun schränkt der Patriot Act selbst eine ganze Reihe von Bürgerrechten ein. Wenn man etwa Opfer einer Hausdurchsuchung wird oder das eigene Vermögen vom Staat eingezogen wird, ist es verboten, dies öffentlich zu machen. Dies heißt natürlich auch, dass wir nicht wissen, wie viele schon Opfer eines solchen Machtmissbrauchs waren.

Es dürften eine Menge sein. Denn durch den Foreign Intelligence Surveillance Act (Fisa) sind die Möglichkeiten für Hausdurchsuchungen und Abhöraktionen signifikant erleichtert worden. Die Geheimhaltung dabei ist total. Der Bericht des Justizministeriums an den Kongress über die regulären Abhöraktionen gegen normale Kriminelle umfasste mehr als hundert Seiten. Der Fisa-Bericht bestand aus einem Satz: Es werden keine Informationen gegeben.

Auch wenn die Bush-Regierung sie ins Extrem geführt hat, diese Entwicklung begann vor 20 Jahren. Innerhalb des politischen Systems ist es deshalb von zentraler Wichtigkeit, den Kongress wiederzubeleben. Er muss zu seiner historischen Rolle als Kontrollinstanz der Regierung zurückfinden und wieder zu dem Ort werden, an dem Dinge von öffentlichem Interesse öffentlich beraten werden.

Diese Geschichte lehrt aber noch etwas. Der formale politische Apparat umfasst immer weniger das eigentlich Politische – mehr und mehr dieses Politischen wird informell. Mütter protestieren als Mütter gegen das Verschwinden ihrer Söhne, wie in Argentinien. Indigene fordern in Mexiko ihre Rechte und legen dabei keine „traditionelle“ Tracht an, sondern marschieren nackt mit weißen Masken über dem Kopf. In New York wird mit Mitteln des Straßentheaters gegen den Republikanischen Parteitag demonstriert. Alle möglichen sozialen Bewegungen kommen in den Sozialforen zusammen. Sie bedienen sich eines informellen politischen Vokabulars. Es mag nicht so aussehen wie Politik, aber es ist Politik. Capoiera war eine Kampfkunst, die die Sklaven in Brasilien erfanden: Sie sah aus wie ein Tanz. Für mich ist sie ein Sinnbild für eine Art von Politik, die außerhalb des politischen Apparats zu entstehen beginnt. Ich glaube, wir brauchen beides.

Die Autorin ist Professorin für Soziologie an der Universität von Chicago. Der Text ist die gekürzte Version eines Vortrags, den sie im Rahmen der „Live And Let Die“-Veranstaltung an der Berliner Volksbühne gehalten hat. Übersetzung: Tobias Rapp