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Archiv-Artikel

„Wir müssen wach bleiben“

Heiner Bielefeldt ist Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte. Er spricht am Samstag auf dem taz-Kongress über die Universalität der Menschenrechte – und wem genau sie eigentlich nützen

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

kongress.mag: Herr Bielefeldt, können Sie uns erklären, was Menschenrechte sind?

Heiner Bielefeldt: Rechte, die einem Menschen zukommen, schlichtweg weil er ein Mensch ist.

Menschen haben doch Rechte – zum Beispiel durch ihre Staatsangehörigkeit.

Menschenrechte sind nicht abhängig von bestimmten Rollen. Der des Mieters etwa, des Vermieters oder eben des Staatsangehörigen. Menschenrechte meinen die elementaren Rechte, die dem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen. Punkt.

Punkt? Und wie geht die Bestimmung weiter?

Inhaltlich sind Menschenrechte Freiheitsrechte. Es geht darum, der Würde des Menschen das Maximum an Freiheit zuzusprechen.

Das könnte was bedeuten?

Die Conditio humana ist, dass wir endliche Wesen sind, verletzliche, und Unterstützung brauchen. Insofern sind Menschenrechte auch Gleichheitsrechte.

Und wo hören sie auf? Ist mein Menschenrecht auf Stille berührt, wenn mein Nachbar zu laut Musik hört?

Bitte keine Trivialisierung … Aber richtig ist, dass die Grenze der Menschenrechte vielleicht nicht ganz genau bestimmt werden kann. Eine gewisse Zurückhaltung bei der Verwendung des Wortes Menschenrechte ist, glaube ich, klug.

Nachbarschaftszwist …

… kann natürlich auf den zweiten Blick eine menschenrechtliche Dimension haben.

Aha!

Na, wenn beispielsweise der eine Nachbar in einer sehr viel schwächeren Position ist als der andere, weil rassistische Diskriminierungen in ihren Konflikt mit hineinspielen.

Sie sprechen von Unrechtserfahrungen. Islamisten berufen sich auf sie, weil sie die Idee des Westens mit seiner Säkularität für menschenrechtswidrig halten.

Spreche ich von Unrechtserfahrungen, habe ich noch nicht akzeptiert, dass jeder, der Unrechtserfahrungen im Munde führt, damit eine menschenrechtliche Agenda verfolgt. Beim Islamismus haben wir ja nun vielfach eine Agenda, die sehr autoritär ist, zum Teil orientiert man sich an überholten Geschlechterstereotypen. Islamistische Bewegungen können extrem homophobe Klischees transportieren. Nicht jeder, der seine eigene Bewegung unter den Anspruch der Gerechtigkeit stellt, vertritt damit menschenrechtliche Interessen.

Aber wie unterscheidet man, was legitim ist und was nicht?

Ich will Ihre Frage noch weiter zuspitzen. Manchmal werden menschenrechtlich legitime Interessen mit problematischen verquickt. Nehmen wir das Recht auf Entwicklung …

wie es China beansprucht …

… ja, da steht ein Gerechtigkeitsanspruch dahinter, der auch in Menschenrechtssprache übersetzt werden kann. Aber der wird etwa von der Kommunistischen Partei zum Anlass genommen, alle anderen Menschenrechte auf ewig zu vertagen.

Oder die paranoide Bush-Politik?

In der Tat. Das nachvollziehbare Interesse an einer Abwehr des Terrorismus kann dazu führen, dass ein Menschenrecht auf Sicherheit postuliert wird und dieses alle anderen Interessen erstickt.

Wo steht dies zu lesen?

Zum Beispiel in der allgemeinen Erklärung der UNO. Sie mahnt uns, jeden Menschen als Freiheitssubjekt zu achten, also so zu achten, dass er oder sie selbst artikulieren kann, was denn für ihn oder sie wichtig ist.

Manchmal sind es soziale Bewegungen, die eine sehr große Mobilisierungskraft entfalten, die im Namen der Freiheit Menschen instrumentalisieren …

Ja, das ist bedauerlicherweise so. Es heißt dann: Wer nicht auf unserer Seite ist, ist ein Feind der Gerechtigkeit. Ich finde, der einzelne Mensch ist wichtiger als jede Bewegung, in der er agiert. Jeder Mensch soll sich selbst artikulieren können.

Menschenrechte in Ihrem Sinne haben aus der Perspektive theokratischer Staaten eine imperiale, westliche Dimension. Akzeptieren Sie diese Kritik?

Natürlich nicht. Es sei denn, man sagt, jede Einrede von außen ist imperial. Menschenrechte haben tatsächlich die Eigenschaft, grenzüberschreitend zu sein – so dass sie Ansprüche auf hermetische, zum Beispiel kulturelle Identitäten oder religiöse Herrschaftsräume, geschlossene Milieus durchkreuzen. Sie haben ein interventionistisches Element, aber es ist eine Form der Intervention, die immer sagt, „ich will dafür sorgen, dass die Menschen selbst reden können“.

Der Menschenrechtsdiskurs als Sprechhilfe der Schwachen – habe ich Sie richtig verstanden?

Der Begriff des Schwachen ist in Anführungszeichen zu sehen, aber dann kann man das so sagen. Es geht darum, auch durch Einwirkung von außen die Maulkörbe abzuschaffen. Und wer das Imperialismus nennt, macht sich verdächtig.

Es gibt ja Linke, die das so empfinden.

Das ist wahr. Wir haben in der Menschenrechtspolitik oft mehrere Machtungleichgewichte, die ineinander verwoben sind. Es gibt ja die Erfahrung der eurozentrischen Arroganz. Weshalb es klug ist, dass europäische Menschenrechtspolitik in der Sache sehr entschieden ist, aber im Ton manchmal auch bescheiden. Einrede von außen gehört immer dazu.

In manchen Staaten wird die Niederrangigkeit der Frau oder Homophobie als kulturell oder religiös gegeben verstanden. Verbietet sich Einrede nicht eher?

Ein klassisches Motiv der Abwehr, dass man in den geschlechterdemokratischen Fragen oder in Sachen Homophobie Schicksalsmächte beschwört. Es können auch sozialdarwinistisch konstruierte Sachzwänge sein, die ins Feld geführt werden. Ich beharre jedoch darauf, dass der Menschenrechtsanspruch von der Idee lebt, dass Menschen sich durch diese Haltungen nicht knechten lassen.Und sie lebt davon, dass vermeintliche Schicksalsmächte auch dekonstruiert werden.

Uns ist das klar …

… ja, dass, ich nehme ein anderes Beispiel, Behinderung zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen kann. Vor 30 Jahren war da noch niemand drauf gekommen. Als die allgemeine Erklärung der Menschenrechte erlassen wurde, war niemand auf die Idee gekommen, Behinderung im Kontext der Diskriminierung zu sehen.

Ist Arbeitslosigkeit ein Verstoß gegen die Menschenrechte?

Auch hier gilt: Es kommt drauf an. Wenn ein Mensch arbeitslos wird, weil er die falsche Hautfarbe hat, eine unerwünschte sexuelle Orientierung oder aufgrund des Geschlechts, dann ja.

Der Soziologe Heinz Bude schrieb einst, es gebe in der Soziologie die unterbelichtete Kategorie des Schicksals – existiert diese innerhalb der Menschenrechtstheorie?

Natürlich. In dem Sinne: Wir sind alle Menschen, wir machen Fehler. Die Menschenrechte sind nicht eine Vision der perfekten Welt. Es ist eine Rechtsstruktur für endliche, fehlbare Menschen, die krank sein können, Unglück haben – oder sich selbst zerstören.

Also eine bürgerliche Emanzipationswaffe?

Ja, richtig. Doch mit Worten wie Schicksal und Unglück wird man immer sehr skeptisch umgehen müssen. Diese wurden zur Erklärung systematisierten Unglücks viel zu oft beschworen.

Und instrumentalisiert?

Natürlich. Als Schicksal wird die Globalisierung genommen. Und mit ihr der Abbau sozialer Menschenrechte begründet. Und das ist ideologisch. Wo aber genau die Grenze zwischen dem verläuft, was wir hinnehmen müssen und was nicht, ist offen – wir müssen einfach wach bleiben.