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Archiv-Artikel

„Jiddisch hatte nie ein Land“

Statt ihre Sprache aus Gründen der Assimilation abzulegen, spielt eine junge Generation von Juden mit kulturellen Identitäten. Dazu gehört auch die Jiddischkeit von New Yorker Dragqueens. Peggy Lukac über ihr Konzept für die Jüdischen Kulturtage

Interview KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Frau Lucas, Sie sind Leiterin des Theater- und Filmprogramms der diesjährigen Jüdischen Kulturtage. Was war Ihr erster Gedanke, als die jüdische Gemeinde das Thema „jiddisch“ vorschlug?

Peggy Lukac: Ach du lieber Himmel, diese Klischees, da sitzt einer auf dem Dach, fiddelt, hat eine Milchkanne dabei und singt „Baj mir bistu schejn“. Ende. Dann habe ich so viele Aspekte kennen gelernt, von denen hier so wenig gewusst wird, dass ich das unbedingt aus diesen Rastern herausnehmen wollte.

Man nimmt immer an, dass jiddisch die Sprache der Schtetljuden war und heute nur von den chassidischen Juden gesprochen wird. Dass es dazwischen die Republik Birobidschan in der Sowjetunion gab, den Bund, eine sozialistische jüdische Arbeiterpartei und eine ganz aufgeschlossene Gemeinschaft in den Zwanzigerjahren, die sich im Wesentlichen über Jiddischkeit definiert hat, das weiß niemand. Unser Land ist ja nicht so sensibilisiert, dass es überhaupt zwischen verschiedenen Arten von Juden unterscheiden kann. Angesichts der Klezmeritis und des Holocaust ist der Blick auf die Vielfältigkeit verloren gegangen.

Ist das Bild der jiddischen Kultur nicht eine sehr nostalgische Kulisse, besetzt von Klezmer?

Es gibt jede Menge Klezmer-Gruppen, wo weit und breit kein Jude mitspielt. Das finden alle auf einmal ganz entzückend. Das ist halt viel jiddisch Disneyland. Natürlich muss so ein Festival einen Abend mit jiddischen Liedern haben und eine lange Nacht des Klezmer. Viel interessanter ist da Yale Stroms Film über die Republik Birobidschan „L’Chayim, Comrade Stalin“. Die meisten Leute wissen nichts von der Existenz dieser jüdischen Republik, gegründet von Stalin, an der chinesischen Grenze, wo in einem Umfeld von 3.000 Kilometern niemals vorher Juden gesiedelt haben, ein trostloses Gebiet mit Sümpfen. Das ist fast ein Gegenmodell zu Israel: antizionistisch, profan, sozialistisch. Da kamen viele Juden aus Amerika, um das mitaufzubauen.

Jiddisch hat über Jahrhunderte hinweg als Sprache der Diaspora funktioniert und eine kulturelle Identität unterstützt, die ohne Territorium auskommen musste. Das ist zurzeit auch deswegen spannend, weil viele Kulturen heute in der Emigration nach Formen des Weiterlebens suchen. Kann Jiddisch ein Modell sein?

Das wäre zu hoch gegriffen. Jiddisch ist nicht nur eine sterbende Sprache, sondern hat noch ein zweites Problem. Jiddisch wurde über Jahrhunderte unter Juden als Jargon angesehen, und jeder, der etwas auf sich gehalten hat, hat erst mal den Jargon abgelegt. Deshalb beschäftige ich mich mit Alexander Granach, seiner wunderbaren Geschichte zum Assimilationsprozess. Granach war Bäckergeselle und Sargtischler in der Grenadierstraße und sprach nur jiddisch. Das Erste auf seinem Weg zum Schauspieler war die Sprache abzulegen – er hat nie in Jiddisch gespielt. Dann hat er Deutsch gelernt, seinen Namen abgelegt – als Jesahjah macht man keine Karriere –, er wurde zu Alexander. Dann ließ er sich beide Beine geradebrechen, weil er X-Beine hatte. Das kam vom Stehen als Bäckergeselle, das sollte man ihm nicht ansehen. Dann ist er für Deutschland in den Ersten Weltkrieg gezogen.

Wenn man das kleine Programmheft durchblättert, denkt man, der Schwerpunkt liegt in der Vergangenheit, das kennt man schon.

Kommen Sie trotzdem. Wir haben das Heeb Magazin, eine neue amerikanische Zeitung, eingeladen, die hier eine Release-Party geben mit sehr vielen jungen Künstlern. Dazu gehört eine Live-Performance von Raven Snook, das ist eine New Yorker Dragqueen, die sich mit Jiddischkeit beschäftigt. Da kommt Tamy Ben Tor, die als Hitler-Sisters auftritt: Sie hat ein kleines Hitlerbärtchen und die Augenklappe von Mosche Dajan. Das ist allein schon im Outfit eine Provokation. Sie singt jiddische Lieder so gemein, so komisch, so befreiend. Das Heeb Magazin hat in Amerika und auch weltweit unglaublich viel Staub aufgewirbelt, weil das mit Jiddischkeit und auch mit dem Holocaust anders umgeht, auch mit einem Humor der Zwanzig-, Dreißigjährigen.

Zudem gibt es die amerikanische Filmnacht, wo Nancy Schwartzman, die auch Mitherausgeberin von Heeb Magazin ist, einen Abend zusammenstellt mit ganz ungewöhnlichen New-York-Underground-Filmen, die sich mit Jiddisch beschäftigen. Anna Adam gestaltet die „jiddische Gass“: Sie ist mit ihrer Ausstellung „Feinkost Adam“ wie ein Wind durch dieses Land gefahren, weil sie zum ersten Mal ein bisschen despektierlich mit jüdischen Devotionalien umgegangen ist. Das sind zurzeit die provokantesten Perspektiven, die es zum Thema Jiddisch und Jüdisch gibt, sie machen sicher dreißig Prozent des Programms aus.

In den Anfangsjahren des Staates Israel, als Hebräisch sich gegen Jiddisch durchsetzte, schienen die beiden Sprachen für verschiedene Mentalitäten zu stehen. Ist Jiddisch die Sprache der Vergangenheit geblieben?

Jiddisch hat für Macht, Strategie, Politik ganz wenige Wörter, weil sie nie in der Regierung war. Für Natur gibt es wenige Wörter, aber dreimal so viel wie im Deutschen für zwischenmenschliche Beziehungen. Der israelische Jude ist einer, der sagt, nie wieder, nie wieder in die Gaskammer. Er ist jung, erfolgreich, kämpfend. Der jiddische Jude wird identifiziert mit der Sprache der Wehrlosen, der Kabbala-Gläubigen, der Erfolglosen, der Spinner, der unendliche viele Worte macht, dass man das so und so und so sehen kann. Das sind natürlich zwei Weltbilder. Vom Sprachgebrauch und von der Denkweise ist die Welt des Jiddischen einfach nicht so digital wie wir. Jiddisch hat nie ein Land gehabt, war immer zu Gast in eines anderen Haus: Da hat man das Zusammenleben entwickelt, die Differenzierungen der Blicke, der Gesten, der Ausdrücke, der Tonfälle. Dass diese Sprache schon eine ganze Körperhaltung mitprägt, eine Gesten- und Gebärdensprache, erzählt uns der Performer Samy Molcho wirklich hinreißend. Dieser Mann passt in keine Kategorie, man möchte ihm immer weiter zuhören.

Jüdische Kulturtage, bis 29. November. Treffpunkt, Ausstellung, Videos: „jiddische Gass“ in der Villa Elisabeth und Synagoge Beth Zion, Invalidenstr. 3 und 4; weitere Termine siehe Programm