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Archiv-Artikel

Ärzte fordern Schadensminderung in der Zelle

Häftlinge werden medizinisch viel schlechter behandelt als freie Menschen. Ein Bonner Kongress forderte besser ausgebildete Ärzte und Suchtprogramme. Nicht die Abstinenz von Drogen sei das Ziel, sondern Schadensminderung

„Kranke Menschen haben in Haftanstalten nichts zu suchen“, sagt eine Ärztin

BONN taz ■ Die medizinische Gleichbehandlung von „Normalbürgern“ und Häftlingen wurde auf der „Europäischen Konferenz zur Gesundheitsförderung in Haft“ in Bonn gefordert. Rund 160 Experten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Italien nahmen an der zweitägigen Konferenz am vergangenen Wochenende teil. Initiiert wurde die erstmals stattfindende Veranstaltung vom Wissenschaftlichen Institut der Ärzte Deutschlands (WIAD), der Deutschen Aids-Hilfe und dem Bremer Institut für Drogenforschung.

Die Veranstalter kritisieren nicht nur die zweitklassige medizinische Versorgung Inhaftierter, sondern fordern darüber hinaus die Bundesregierung auf, endlich einheitliche Kriterien für die medizinische Fürsorge von Gefangenen einzuführen. Vorbild ist hier das „Health in Prison Project (HiPP)“ der WHO. 27 Länder haben diese Erklärung unterschrieben, Deutschland aber nicht. Das Projekt fördert einen Paradigmenwechsel in der deutschen Drogenpolitik – weg vom Dogma völliger Abstinenz, hin zum Prinzip der Schadensminderung, „harm reduction“ im Ärztedeutsch. „Wir fordern die konsequente Durchsetzung von Schadensminderungskonzepten“, sagte Bärbel Knorr von der Deutschen Aids-Hilfe.

Die medizinische Versorgung von Strafgefangenen hat sich in den letzten Jahren durchweg verschlechtert. 220 Haftanstalten (JVAs) gibt es in Deutschland, jedes Jahr werden sie von einer Viertelmillion Menschen durchlaufen, durchschnittlich befinden sich 80.000 Menschen in Haft. Heino Stöver vom Bremer Institut für Drogenforschung schätzt, dass rund ein Prozent davon, also 800 bis 1.000 Häftlinge, HIV positiv ist. „Die Infektionsrate mit Hepatitis C ist eine tickende Zeitbombe.“ Das ganze Ausmaß der Erkrankung sei erst in fünf bis zehn Jahren absehbar. 15 bis 20 Prozent der Inhaftierten litten unter dieser Krankheit, von der insbesondere Drogenabhängige betroffen sind. Als drogenerfahren oder drogenabhängig gelten 30 bis 50 Prozent der Häftlinge, die wiederum aufgrund der Haftbedingungen verstärkt Gefahr laufen, sich mit Aids, Hepatitis oder Tuberkulose zu infizieren. Verläßliche Zahlen gibt es aber nicht. „Das beweist, wie wenig Interesse dem Thema entgegen gebracht wird“, sagt die Bonner Ärztin Caren Weilandt vom WIAD. Ihr Versuch, bei den Landesjustizbehörden an Zahlen zu kommen, sei „erschütternd“ gewesen. Nur vier hätten sich zurückgemeldet, Informationen habe es keine gegeben.

Die Experten bemängeln, dass die Anstaltsärzte keine Spezialisten seien, wie sie aber unter anderem eine HIV-Erkrankung erfordere. Insgesamt gelte, dass trotz ihres rechtlichen Anspruchs weder drogenabhängige noch schwerkranke Häftlinge denselben Zugang zum medizinischen Angebot haben wie Nicht-Häftlinge. Freie Arztwahl gäbe es im Knast ebenso wenig wie Entgiftungsprogramme für Drogenabhängige. Der kalte Entzug in der Zelle sei Alltag. Weiterhin kritisieren die Veranstalter, dass es kaum Substitutionsplätze in den Haftanstalten gibt. „Das Argument beschränkter Kapazitäten gilt nicht“, sagt Knorr. Wenn man für chronisch Kranke oder Drogenabhängige in Haft keine angemessene medizinische Versorgung gewährleisten könne, dann „haben diese Menschen in den Haftanstalten einfach nichts zu suchen“, so Knorr.

Wie die Situation für Häftlinge in Nordrhein-Westfalen aussieht, das kann auch der ehemalige Drogenbeauftragte des Landes, Hans Hüsgen, nur schwer abschätzen. Spritzentauschprogramme habe in NRW das Justizministerium verhindert, so Hüsgen. Dafür habe das Land früh Methadonprogramme für Häftlinge eingeführt. „Insgesamt ist die Drogenpolitik des Landes recht liberal“, sagt Hüsgen. Rückschlüsse auf die Zustände in den JVAs lasse das aber nicht zu. „Hier geben Anstaltsleitungen und Anstaltsärzte den Ton an.“

MARTIN OCHMANN