Heinz Strunk liest im Studio Braun aus „Fleisch ist mein Gemüse“
: Schamhafte Déjà-vus

Vier S-Bahn-Stationen liegen nur zwischen Harburg und dem Hamburger Hauptbahnhof, aber manchmal gelangt man nie auf die richtige Seite der Elbe. Der 1962 geborene Matthias Halfpape, der sich heute Heinz Strunk und manchmal auch Jürgen Dose nennt und es mit Studio Braun als brillanter Telefonrhetoriker zu überregionalem Ruhm brachte, hat es geschafft. Ein echtes Wunder angesichts der Dinge, die ihm in seinen jungen Jahren in Harburg und Umgebung widerfuhren und über die er in Fleisch ist mein Gemüse, aus dem er jetzt im Schauspielhaus liest, defailliert Rechenschaft ablegt.

„Eine Landjugend mit Musik“ lautet der Untertitel von Strunks Erinnerungsbuch. Zwar ist er zu dessen Beginn schon 23 Jahre alt, aber wie ein Vorzeige-Jugendlicher mit Rasenmähen beschäftigt und von Pickeln geplagt. Acne Conglobata nennt sich seine Hautkrankheit, über die er detailliert Bericht erstattet. Weitere Kennzeichen sind „zwei linke Hände und lauter Daumen“, wie sein Großvater immer zu sagen pflegte, mit denen er aber virtuos eine Reihe von Blasinstrumenten zu bedienen weiß.

Tenor-, Alt-, Sopransaxophon und Flöte verschaffen ihm bald eine Stelle in der Tanzkapelle „Tiffanys“, von deren Abenteuern das Buch handelt. Fleisch ist mein Gemüse ist eine Autobiografie, aus der man permanent zitieren möchte, also lassen wir doch mal den jungen Strunk vorm ersten Auftritt seine Mitmusiker in der Umkleidekabine beobachten: „Verstohlen musterten wir gegenseitig unsere deformierten Körper. Gurki, typischer Leptosom mit dünnen Ärmchen und Beinchen, sah aus wie ein zerrupfter Truthahn. Bleich, unzählige Leberflecke, trotz schmächtiger Erscheinung Schwimmring und Autofahrerbäuchlein. Norbert, jugendlich-straffe, leicht gebräunte Haut, jedoch als schweres Handicap ausladendes Becken; er war rhombenförmig. Jens, untersetzt, feist, vierschrötig, Typus Hummel. Torsten, Pykniker wie aus dem Lehrbuch, Rücken, Schultern und Brust stark verpickelt, Oberschenkel dick wie Fußgängerampeln, trotzdem fest, kompakter Gesamteindruck. Ich, weiß wie eine Wand, komplett zugepickelt, wenige unsymmetrische Haarinseln, Ansatz zur männlichen Fettbrust, den sog. Herrentitten, trotz Normalgewichts irgendwie eingefallen, schwabbelig wirkend.“

Unerschrocken, präzise und sprachmächtig wurden hier die Dämonen der Vergangenheit fixiert und auf Papier gebannt. Aus der Umkleide geht es auf die Bühne des Schützenvereins Moorwerder, wo Bandleader Gurki dem Publikum einheizt: „Jaaaaaaaaaa, liebe Freunde! Swingtime is good time, good time is better time.“ Heinz Strunks genauer Blick von der Bühne hinab auf all die Schützenfeste, Hochzeitsfeiern und Jugendfeten, die er mit „Tiffanys“ in zwölf Jahren bespielen wird, liefert ein ungeheuer komisches Porträt deutscher Frohkultur. Highlights aus dem Zitatenschatz von Chris Roberts, Truck Stop und Tommy Steiner schmetternd, defilieren kilometerlange Polonaisen volltrunkener Schützenbrüder und Brautjungfern vorbei, die immer wieder Klaus und Klaus und „Mooooaaarius“ hören wollen.

Fleisch ist mein Gemüse ist ein ehrliches Buch, das fast masochistisch alles registriert, was das Leben eines jungen Menschen unerträglich macht. Neben Eiterpickeln und Einsamkeit bildet vor allem die Geschichte seiner psychisch kranken Mutter den Hintergrund der Eskapaden des jungen Strunk, die Geschichte eines von Angst und Schmerz geprägten Lebens, das sich wohl nur mit Humor ertragen lässt.

Neben einem burlesken Sittengemälde aus der nahen Provinz, das für jeden in den Achtzigern Sozialisierten viele schamhafte Déjà-vus bereithält, ist Fleisch ist mein Gemüse auch der Bildungsroman eines Humoristen, der ohne Lektionen auskommt. Außer einer vielleicht: „Na ja, ich sag immer so: Wem es gut geht, der hat auch nicht wirklich Humor.“ Alle Mühseligen und Beladenen dies- und jenseits der Elbe sollten also zusammenkommen, wenn Heinz Strunk zum ersten Mal allein auf der Bühne steht. Volker Hummel

Heinz Strunk: „Fleisch ist mein Gemüse“. Hamburg 2004, 255 S., 8, 90 €. Lesung: Do, 4.11., 20 Uhr, Schauspielhaus