: „Wie in der Sowjetunion“
Die Kita-Diskussion: hysterisch. Die Wirtschaftsförderung: überausgestattet. Die Arbeitsmarktpolitik: wie in Moskau. FDP-Fraktionschef Martin Lindner bezeichnet Senatspolitik als völligen Kokolores
Interview ROBIN ALEXANDER
taz: Sie interpretieren das Urteil des Verfassungsgericht zum Landeshaushalt so: Berlin müsse jetzt an seine Überausstattung heran. Wo liegen die?
Martin Lindner: Im Vergleich zu anderen Großstädten haben wir Überausstattungen bei Soziales, der öffentlichen Verwaltung und den Wirtschaftssubventionen.
Welche Sozialleistung muss jetzt gestrichen werden?
Wir müssen endlich beim Sozialen auf das Niveau anderer Bundesländer kommen. Wir können nicht erwarten, dass andere Länder unsere Schulden bezahlen, während wir freigebig und großzügig sind.
Was ist großzügig: Der Telebus für die Behinderten? Das Blindengeld, das hier höher ist als anderswo? Oder vielleicht die Drogenhilfe?
Alle diese Einrichtungen werden sich einer Überprüfung stellen müssen. Wir brauchen eine Öffnungsklausel im Wohngeldgesetz um die Zuschüsse abzusenken. Wir haben schließlich über 100.000 leer stehende Wohnungen. Wer einen Erstantrag auf Sozialhilfe stellt, soll sofort zu gemeinnütziger Arbeit herangezogen werden. Dann zieht ein erheblicher Teil seinen Antrag sofort zurück.
Eine klassische Überausstattung ist die Berliner Versorgung mit Kita-Plätzen. Wollen Sie da auch runter?
Die Kita-Diskussion wird in Berlin schon traditionell hysterisch geführt. Es gibt hier eine Clique von Verbandsfunktionären und Berufsbeiräten, die nur behaupten im Namen der Eltern zu sprechen und bei jeder Veränderung reflexartig aufheulen. Die einundvierzigstufige Kindersteuer, die heute im Abgeordnetenhaus beschlossen werden soll, ist Ausdruck davon: Wer eine kleine Weihnachtsgelderhöhung bekommt, rutscht sofort zwei Stufen rauf. Völliger Kokolores! Unser Vorschlag für Kitas ist der: Die Kernzeit, fünf Stunden nach Kita-Gesetz, muss zumindest mittelfristig kostenfrei für alle sein, denn es handelt sich um eine Bildungseinrichtung wie die Schule.
Kostenfreie Kita? Aber das wird ja noch teurer.
Langsam. Alles darüber hinaus soll kostendeckend abgerechnet werden. Wer zusätzliche Betreuungsstunden, Mittagessen, Englisch- oder Geigenunterricht in der Kita wünscht, muss dafür zahlen. Mit einer Ausnahme: Allein erziehende Berufstätige sollen die Möglichkeit einer kostengünstigen Zusatzunterbringung ihrer Kinder haben, damit sie ihre Jobs nicht verlieren.
Bei der Wirtschaftsförderung sehen Sie auch Überausstattung?
Nach dem Krieg hat Westberlin immer die Gesetze des Bundes übernommen. Leider: Hätten wir Einkommensteuer und Körperschaftsteuer nicht übernommen, hätten wir hier heute ein kleines Hongkong. Man hat stattdessen die Steuern kassiert und sie – da Westberlin unter diesen Umständen nicht lebensfähig war – als Subventionen zurückgegeben. Die Wirtschaftsförderung ist hier traditionell breit angelegt. Wir brauchen aber nicht breite, sondern gezielte Förderung.
Viele Programme sind kofinanziert. Berlin bekommt Geld vom Bund oder der EU.
Ja, aber trotzdem muss man prüfen: Was fördern wir denn eigentlich? Es gibt in Berlin Unternehmen, die nehmen ständig Förderungen in Anspruch und verschwenden keinen Gedanken daran, je Gewinn zu erzielen.
Um welche Unternehmen handelt es sich?
Ich möchte keine Namen nennen. Wir sind jedenfalls bei der Wirtschaftsförderung weit überausgestattet. Hamburg gibt dafür pro Einwohner 64 Euro aus, Berlin aber 746 Euro. Da müssen wir ran, genauso wie an die Sozialausgaben.
Welches Förderprogramm ist obsolet?
Im Medienbereich wird zum Beispiel sehr breit gefördert. Und gleich von mehreren Stellen. Die Senatskanzlei beschäftigt sich mit der Medienansiedlung. Die Investitionsbank Berlin ist auch damit beschäftigt und schließlich fördert die Wirtschaftsverwaltung noch die Produktion. Da hat keiner mehr den Überblick: Der Senat ist nicht einmal in der Lage, eine ressortübergreifende Übersicht über die Wirtschaftsförderung zu geben.
Die Überausstattung in der Verwaltung sind die Arbeitnehmer.
Ich bin der Meinung, Berlin sollte eine Bundesratsinitiative anstoßen, dass Länder in extremer Haushaltsnotlage das Kündigungsschutzgesetz suspendieren können. Im öffentlichen Dienst und in den öffentlichen Betrieben müssen betriebsbedingte Kündigungen möglich sein. Die Kündigung soll gar nicht der Regelfall sein, aber sie stärkt die Verhandlungsposition des Arbeitgebers in Verhandlungen über die Auflösung der Arbeitsverhältnisse. Einer der wenigen öffentlichen Betriebe, der nicht auf betriebsbedingte Kündigungen verzichtet hat, ist die Bankgesellschaft. Und die schafft es auch, sich von überzähligem Personal zu trennen.
Ist es sinnvoll, bei der hohen Arbeitslosigkeit Leute zu entlassen?
Gute Arbeitsmarktpolitik schafft die Voraussetzungen für Investitionen. In Berlin aber ist jahrzehntelang über den öffentlichen Dienst Arbeitsmarktpolitik getrieben worden – wie in der Sowjetunion. In Moskau saß alle fünf Meter jemand in Uniform herum und tat nichts. Arbeitsmarktpolitik in diesem Geiste hat Berlin ruiniert. Damit muss Schluss sein.