: „Die Mauer fiel uns auf den Kopf“
NEVIM ÇIL
Vor ihr hatte es offenbar niemanden interessiert: Die junge Deutsche, Jahrgang 1972, ist die Erste, die die Sicht der türkischen MigrantInnen auf den Mauerfall und die deutsche Wiedervereinigung untersucht. Seit drei Jahren promoviert sie an der Freien Universität Berlin zu diesem Thema – und kommt zu dem Schluss: Die Enkel, Söhne und Töchter der türkischen GastarbeiterInnen sind die großen Verlierer der Wende. Zumindest sehen sie selbst sich so. Çil, Ex-Punkerin und Hausbesetzerin, zog 1993 von Bremen nach Berlin und studierte zunächst Religionswissenschaften. Neben dem Studium arbeitete sie im Bundestagsbüro von Joschka Fischer. Seit Jahren forscht sie zum Thema Migration und Generation.
INTERVIEW ADRIENNE WOLTERSDORF
taz: Frau Çil, der 9. November 1989 – ein unvergesslicher Abend?
Nevim Çil: Ich war zu Hause in Bremen und guckte an dem Abend einen Film, dann wurde die Sendung unterbrochen und die Bilder dieser Menschen an der Mauer gezeigt. Oh Gott!, war meine erste Reaktion. Hilfe! Deutschland wird größer. Das war mein erster Impuls.
Im Ernst, keine Freude?
Ich war damals so ein bisschen aktiv in der linken Hausbesetzer-Szene und dadurch vielleicht sensibilisierter für das Thema Deutschland, deutsche Vergangenheit und Nationalbewusstsein. Als Gastarbeiterkind ist man da eben etwas hellhöriger.
Sie sind das, was die Soziologen die „zweite Migrantengeneration“ nennen.
Sagt man so, ja. Mein Vater kam als ungelernte Kraft nach Deutschland und arbeitete lange als Schweißer, später bei der Bremer Stadtreinigung. Meine Mutter arbeitete am Fließband Akkord.
Wie kommt es dann, dass sie als Teenager Hausbesetzerin wurden?
Warum nicht? Ich wurde hier geboren und sozialisiert. Ich weiß nicht, warum wird man so? Keine Ahnung. Meine Freunde waren in der Szene und ich wurde eben auch Punkerin mit allem, was dazugehört. Klar ist es irgendwie ungewohnt, außer mir waren auch keine weiteren Türken in diesem Kreis. Damals fühlte ich mich in diesem Weltbild beheimatet, damals. Irgendwann hat sich das geändert.
Wann?
Na ja, es wäre ein bisschen übertrieben, diesen Bruch auf den Mauerfall zurückzuführen, aber irgendetwas war da passiert. Plötzlich wurde in den Medien und durch die Freunde dieses neue Nationalgefühl betont, das ging ja bis hin zu Gewalttaten gegen Nichtdeutsche. Auf einmal gab es diese komische Polarisierung in der Gesellschaft, und eben auch in meinem Freundeskreis und unter den Leuten, die angeblich links waren.
Was war denn passiert?
Na ja, die Deutschen waren plötzlich besoffen von sich selbst. Ich hatte damals nicht das Gefühl, toll, da haben sich Menschen erfolgreich zur Wehr gesetzt gegen ein repressives Regime. Diese Menschenmengen in den Nachrichten, ich hab richtig Angst gekriegt. Und die wollten alle Richtung Westen. Ich wusste ja, was der Westen ist – Kapitalismus, Imperialismus, Unterdrückung … Ich dachte, das kann nicht wahr sein, wie können die das alles wollen?
Sie haben auch die deutsche Vergangenheit erwähnt.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass sich in Deutschland bis dahin so etwas wie eine stabile Basisdemokratie entwickelt hatte oder dass diese Leute, die da auf der Straße demonstrierten, den Nationalsozialmus so wahnsinnig toll überwunden hätten. So wirkten zumindest diese Fernsehbilder auf mich.
Welche Rolle spielte der Mauerfall in ihrem Leben, bis sie 1993 nach Berlin kamen?
In Bremen mussten wir natürlich in den Geschäften nicht Schlange stehen wie die Leute in Berlin. Im Alltag änderte sich für mich zunächst nichts. Es ging aber schleichend weiter. 1990 war die Wiedervereinigung, 1991 folgte die Veränderung des so genannten Ausländergesetzes, der Asylparagraph wurde gestrichen. Dann gab’s die Brandanschläge von Mölln und Solingen, vorausgegangen waren Rostock und Hoyerswerda. Die Gesellschaft begann sich ab dem 9. November stark zu verändern.
Das haben damals viele Menschen sehr stark kritisiert, es gab Lichterketten und Demos.
Das stimmt. Aber selbst unter meinen Freunden waren einige plötzlich oder zusehends der Meinung: Ja, irgendwie ist das Boot jetzt voll. Dass es in Deutschland zu viele Ausländer gebe, habe ich dann immer deutlicher auch von wirklich guten Freunden gehört. Wir diskutierten heftig, und manche Freundschaften sind daran gescheitert. Plötzlich ging mir durch den Kopf: Hoops, ich gehör wohl doch nicht zu den Deutschen. Man guckt auf mich anders.
In Berlin, an der Freien Universität, haben Sie auch Ostdeutsche kennen gelernt. Waren die anders?
Das waren ganz süße Menschen. Aber irgendwie war es so, dass ich merkte, auch hier werde ich anders gesehen, besonders oder bevorzugt behandelt. So eine Art Positivrassismus. Ich merkte irgendwie, egal ob positiv oder negativ, ich bin offenbar anders. Mit diesem Anderssein, das mir von außen übergestülpt wurde, bin ich nicht klar gekommen.
Haben sie oft das Gefühl, dass sie nett behandelt werden, weil jemand es schick findet, eine Türkin zu kennen?
Ich denke öfter, es geht hier ja gar nicht um mich.
In Ihrer Doktorarbeit an der FU beschäftigen Sie sich mit dem Blick der türkischen Migranten auf den Mauerfall. Ist das die andere deutsche Geschichte?
Es hat mich verblüfft, dass zu den sämtlichen Jahrestagen der Wende die Perspektive der Migranten überhaupt nicht erwähnt wird. Ich höre kaum etwas darüber, obwohl ich persönlich den deutlichen Eindruck hatte, dass sich dadurch für die Migranten etwas Wesentliches verändert hat. Das wollte ich erforschen. Dazu habe ich sehr breit gefasste Interviews mit türkischen Männern und Frauen in Berlin geführt, um zu gucken, ob sich meine These bestätigt.
Und, lagen Sie richtig?
Ich habe schnell gemerkt, dass ich viel zu sanft rangegangen war. Die These muss ich heute viel härter formulieren: Durch den Mauerfall hat sich für die Migranten wirklich sehr viel verändert.
Können Sie die Stimmung zusammenfassen?
Die erste Migrantengeneration definiert sich, also ihre Perspektive auf Deutschland und ihren Daseinsgrund in diesem Land, sehr stark über die Arbeitswelt. Als angeworbene Arbeiter fühlen sie sich mehr oder minder betrogen. Plötzlich mussten sie Platz machen für die Ostdeutschen, denn die haben für niedrigere Löhne gearbeitet. Der Status der ersten Generation, nämlich als Arbeiter, war damit hinfällig.
Sie fühlten sich nicht mehr gebraucht?
Sie mussten den Grund, warum sie hier bleiben, umdefinieren. Familie und die Bildung der Kinder und Enkel rückten dann an die Stelle, die früher die Arbeit hatte.
Wie sieht die zweite Generation der Migranten das neue Deutschland?
Die versteht sich nicht mehr nur auf der ökonomischen, sondern auch auf der sozialen Ebene mit Deutschland verbunden, sie fühlt sich als Teil dieser Gesellschaft. Die, die seit dem Mauerfall einen Bruch verspüren, beschreiben ihn so: Ich merkte plötzlich, dass ich anders bin. Ein dreißigjähriger Berliner Türke, hier geboren, sagte, er habe sich vor der Wiedervereinigung immer als Deutscher gefühlt. Heute sagt er, ich bin Türke. Er meint, vielleicht sind nur noch 20 Prozent in ihm türkisch, aber das reiche, um von den Deutschen als fremd angesehen zu werden. Er fand es frustrierend, dass er 1989, als er ab und zu in den Osten rüber wollte, ganz lange anstehen musste, um diesen Stempel zu bekommen, den Ausländer brauchten, die Deutschen aber nicht. Er sah auf einmal viele kleine, alltägliche Diskriminierungen.
Es war wie ein böses Erwachen?
Ja, er beschreibt es so, dass er als Türke entpuppt wurde, geoutet. Als der falsche Deutsche, ein falscher Fuffziger. Ein anderer meinte zu mir, wir sind mit dem Mauerfall wachgerüttelt worden. Bis dahin hätten viele geglaubt, man brauche nur Deutsch zu lernen und viele deutsche Freunde zu haben, damit einen diese Gesellschaft akzeptiert. Man glaubte, eine individuelle Leistung, also dieser ganze Assimilationskram, führe zur Akzeptanz. Nach der Wende kam dann die Erkenntnis: Ich kann mich bemühen wie ich will, vergiss es, es bringt nichts.
Sind alle türkischen Migranten so ernüchtert?
Diejenigen, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland kamen, also erst als Teenager, sind nicht so enttäuscht. Sie fühlten sich sowieso nie als Teil dieser Gesellschaft. Am frustriertesten sind allerdings diejenigen, die hier die Uni besucht haben. Sie sind ja diejenigen, die sich am weitesten geöffnet haben.
Haben denn die türkischen Berliner nie das Gefühl eines großartigen historischen Ereignisses gehabt?
Doch. Quer durch alle Generationen haben viele gesagt, dass sie sich zunächst sehr gefreut haben. Die Menschen sollen nicht durch eine Mauer getrennt sein, sagte mir ein älterer Migrant. Eine andere erzählte, sie sei sogar mit ihren Geschwistern zur Bornholmer Straße und habe dort die Trabbis begrüßt. Die Perspektive, dass sich vieles ändert, die kam bei den meisten erst mit den Jahren – und eben durch die Debatte, das Boot ist voll und so. Es schien, als haben sich die Deutschen vor dem Mauerfall nicht getraut, so vehement und radikal von einer Überflutung durch Ausländer zu sprechen.
Gibt es einen Wendepunkt in der Stimmung?
Bei der ersten Generation ist es die Wiedervereinigung und der folgende Verlust der Arbeitsplätze. Die Brandanschläge haben die erste Generation nicht so sehr beeindruckt. Viele sagen, ach, das waren dumme, desorientierte Jungen. Bei denen ist der Glaube an den deutschen Rechtsstaat nicht erschüttert worden. Bei den Jüngeren ist es anders. Sie sagen: Die Brandanschläge sind eine Fortsetzung der hochgeputschten Nationalgefühle. Sie fühlten sich direkt betroffen und meinten, man will uns verbrennen. Besonders differenziert wurde da nicht, nicht die Lichterketten, nicht die Proteste dagegen. Meine jüngste Interviewpartnerin, eine 22-Jährige, sagte mir sogar, sie wisse jetzt, was Gut und Böse ist. Die Guten sind die Türken, die Bösen sind die Deutschen.
Die Enttäuschung scheint sich aber auf die Westdeutschen zu beziehen und nicht auf die Ostdeutschen?
Einer aus der ersten Generation sagte zu mir: Die Mauer ist gefallen und sie ist uns Türken auf den Kopf gefallen. Dieser Mann war mit seiner Familie Ende der 80er-Jahre aus Ulm nach Berlin gezogen, weil er seinen Teil dazu beitragen wollte, dass Berlin den Kommunisten nicht in die Hände fällt und die Bevölkerungszahl stabil bleibt. Er war natürlich entsetzt, dass sich nach der Wende die ganze Aufmerksamkeit auf die Ostdeutschen konzentrierte und nicht mehr auf seinesgleichen. Keiner hat mir gegenüber je die Ostdeutschen beschimpft, aber die Enttäuschung über die Westdeutschen ist groß. Man fühlt sich verraten und als deklassierte Bürger, als Bürger dritter Klasse.