Filme für das innere Auge

Billiger als jede Low-Budget-Produktion ist das Nacherzählen von Filmen. Das Festival Total Recall zeigt das mit einem zweitägigen Wettbewerb im HAU 1. Gute Erinnerung ist hilfreich, aber auch, das Vergessen plastisch zu gestalten

Wenn Leute auf Partys Filme nacherzählen, die sie vor vielen Jahren einmal gesehen haben, wundert man sich oft, wie perfekt die sich an Details erinnern. Weißt du noch in „Fargo“, wo der Dingsbums die Landstraße im Schnee langfährt und das Geld irgendwo hinter dem Stacheldrahtzaun vergräbt …? Und der Typ von der Polizistin, entwirft der nicht Entenbilder für Briefmarken? Ich könnte das nicht. Allein schon, weil ich ständig Filmfiguren verwechsle, wenn die plötzlich mit anderen Klamotten rumlaufen oder sich die Haare anders machen.

Das Nacherzählen von Filmen ist also ein Genre für hoch spezialisierte Gedächtniskünstler. Die konnten sich am Wochenende im HAU 1 dem kritischen Publikum stellen und in einem Wettbewerb den besten Nacherzähler ermitteln. Die Teilnehmer haben jeweils genau zehn Minuten Zeit. Sie dürfen keine Zettel benutzen, und das Reglement von Total Recall – so der Name des Projekts – untersagt unter Paragraf 5 auch das Tragen von bedruckten T-Shirts, Mini-Attackern (was immer das ist) und Laserpointern.

Man darf aber ausgiebig mit den Armen rudern oder Flugbewegungen von Vögeln imitieren. Was die Kollegin Jenni Zylka recht effektiv vorführte, als sie den Vögelfilm „Nomaden der Lüfte“ in all seiner Sozialkritik und geografischen Wirrheit wiedergab. Besonders schön auch ihr Exkurs über den Selbstmord eines Vogels einer Freundin, der sich in den Achtzigerjahren aus Melancholie ohne Flügeleinsatz zu Boden gestürzt und tödlich verletzt hatte. Was bewies, dass zehn Minuten Erzählzeit durchaus unterschiedlich lang sein können. Der Mitbewerber Ernst Friedrich Jünger schaffte es in weniger als fünf Minuten, den Fußballfilm „Fußball wie noch nie“ von 1970 über den legendären George Best zusammenzufassen.

Oder Kandidat Michael Bow. Der hatte sich gleich fünf Filme vorgenommen. Fragte zunächst das Publikum, welche es denn schon kenne. So brauchte er über „The Lion King“ nicht mehr viel zu sagen und konnte stattdessen grandiose Verbindungen zwischen Bruce Willis’ Spacetaxifahrten in „The Fifth Element“, dem Bösen und seinen Gegnern in „Armageddon“ und einem Typen mit Holzkreuz in „The Life Of Brian“ ziehen. Schon holten die Zuschauer wie nach jedem Erzähler die Stimmkarten raus, auf denen jedem Kandidaten streng demokratisch bis zu neun Punkte gegeben werden konnten.

Sehr schön auch der Vortrag von Winfried Schäfer über den Film „Säugetiere“, angeblich 1962 von Polanski gedreht. Schäfer erzählte so, wie man sich an Fernsehfilme von vor 30 Jahren erinnert, seltsam fragmentarisch. In seinem Film schien es kaum um Tiere zu gehen, sondern vor allem um zwei Männer, die sich gegenseitig durch den Schnee schleppen, prügeln, ihren Schlitten klauen lassen und sich wieder vertragen. Oder so ähnlich. Ganz genau kann ich mich schon wieder nicht mehr erinnern, woran sich Schäfer genau erinnerte.

Richtig klasse war Marina E. Kern mit der obskuren Komödie „Frühling für Hitler“ (Mel Brooks, 1968). Kern erzählte derart anschaulich, dass man den Film über eine absichtlich schlechte und lächerliche Broadwayshow über the Führer vor dem inneren Auge ablaufen sah. Da sie mit zehn Minuten nicht auskam und jeder wissen wollte, wie die Story ausgeht, durfte sie ausnahmsweise weiter erzählen. Wobei man dann auch bemerkte, dass Filmnacherzählungen, die nicht bis zu ihrem Ende kommen, schlimmer sind als verkorkster Sex.

Ärgerlich ist bloß, dass man in diesem Moment, am Sonntag nach dem Wettbewerb am Freitag und Samstag, auf der Homepage von total-recall.org noch immer nicht nachlesen kann, wer von den 28 Kandidaten denn nun die „Silberne Linde“ für die schönste Erzählung gewonnen hat. ANDREAS BECKER