: Undisziplinierte Regierung
Der SPD-Parteitag zeigte: Die SPD ist vielleicht keine Volkspartei mehr, aber sie passt zum Volk. Sie repräsentiert die Mehrheit, die von den Regierungsbotschaften verwirrt ist
Kanzler Schröder fühlt sich ungeliebt. Da will er das Beste für Deutschland – und die Wähler honorieren es nicht, ja noch nicht einmal die eigene Basis. Ihr bescheinigte er wütend „kollektive Unvernunft“, nachdem Wirtschaftsminister Clement und Generalsekretär Scholz auf dem SPD-Parteitag nur knappe Mehrheiten erhalten hatten.
Es stimmt ja: Es wirkt „undiszipliniert“ (ein weiteres Schröder-Schimpfwort für Delegierte), wenn man den Kanzler als Parteivorsitzenden bestätigt und gleichzeitig seine wichtigsten Mannen fast durchfallen lässt.
Trotzdem könnte der Kanzler etwas missverstanden haben: Die Delegierten waren nicht „kollektiv unvernünftig“, sondern höchst rational. Schließlich sollen sie Parteimitglieder und Wähler vertreten. Und die Deutschen sind mindestens so verwirrt wie die SPD-Ortsvorsitzenden auf dem Parteitag. Das jedenfalls zeigen die Umfragen: Zwar sind die Deutschen mehrheitlich der Meinung, dass die Sozialreformen sein müssen – aber ebenso viele, wieder eine Mehrheit, glauben nicht, dass die Agenda 2010 viel bringt.
Die SPD-Spitze deutet dies als „Kommunikationsproblem“. Bundespräsident Johannes Rau hat kürzlich gefordert, man müsse dem Volk die Reformen „besser erklären“. Noch besser? Die Regierung hat für das nächste Jahr 88 Millionen Euro für ihre Öffentlichkeitsarbeit eingeplant, und die meiste Werbung gibt es sowieso umsonst: Bundestagsdebatten, Pressekonferenzen, Interviews. Ständig ist die Regierung in den Medien.
Wenn die Bevölkerung trotz dieser Dauerbeschallung nichts versteht, dann dürften weitere PR-Anstrengungen umsonst sein. Statt ständig zu senden, sollte die Regierung zwischendurch zuhören – vor allem sich selbst. Die Wähler sind nur so verwirrt wie die Regierungsbotschaften. Ein paar Beispiele aus den letzten Wochen:
Wirtschaftsminister Clement ist fest überzeugt, dass die deutsche Wirtschaft wachsen würde, wenn alle Beschäftigten länger arbeiten müssten. Diese Forderung verkündete er just Anfang November, als die Telekom mitteilte, dass ihre Beschäftigten nur noch 34 statt 38 Stunden arbeiten sollen. Dies würde 10.000 Arbeitsplätze retten. Gleichzeitig will Opel in Rüsselsheim sogar die 30-Stunden-Woche einführen, um 1.200 Jobs zu sichern.
Ein Widerspruch, keine Frage. Aber das ficht Clement nicht an. Denn zu seinen weiteren Glaubenssätzen gehört, dass eine Vollbeschäftigung „der neuen Art“ prinzipiell möglich sei. Mehr Niedriglohn und weniger Schwarzarbeit – schon würde sich herausstellen, dass alle Menschen in Deutschland sowieso schon schwer beschäftigt sind.
Allerdings ignoriert Clement souverän, dass ausgerechnet ein anderes Regierungsgremium eine entgegengesetzte Einschätzung verbreitet: die Rürup-Kommission. In ihrem Beschäftigungsszenario, erstellt von Prognos, ist im Jahr 2020 immer noch mit einer Arbeitslosenquote von 7 Prozent zu rechnen – trotz der Schröder’schen Sozialreformen. Dabei geht die Studie sogar davon aus, dass die Wirtschaft jährlich um 1,7 Prozent wächst. Bekanntlich wurde dieses ehrgeizige Ziel bereits in diesem Jahr verfehlt. Eine Arbeitslosenquote von 7 Prozent ist also eine sehr optimistische Variante.
Solche Zahlen stören den Regierungsfrohsinn, den auch Arbeitsamtschef Florian Gerster gern verbreitet. Wie von den Beteiligten zu hören war, wollte er daher am letzten Wochenende den Kommissionsvorsitzenden Bert Rürup aufsuchen, um sich über dessen Zahlen zu beschweren. Noch lustiger kann Politik kaum werden: Zwei Sozialdemokraten, beide vom pragmatischen Flügel, basteln sich unterschiedliche Lieblingsdaten zurecht. So hat sich der Laie Regierung schon immer vorgestellt.
Aber nicht nur die Erfolgsaussichten der Hartz-Reformen sind widersprüchlich, sondern auch ihre Begründung. Nie fehlt der regierungsamtliche Hinweis, dass uns DIE GLOBALISIERUNG zwingt, den Gürtel enger zu schnallen. Man könnte glauben, wir würden von Importen überschwemmt und müssten um unsere internationale Konkurrenzfähigkeit bangen. Doch gleichzeitig wird mit nationalistisch stolz geschwellter Brust gemeldet, dass wir im August absolute Exportweltmeister waren. Besser als die USA! Wir sind nicht Verlierer, sondern Gewinner der Globalisierung. Trotzdem wird ständig so getan, als müssten wir uns mit Bangladesch vergleichen.
Internationale Vergleiche passen auch sonst nicht recht zum Regierungskurs. So wird in der Steuerpolitik allseits der Eindruck vermittelt, die Bundesbürger müssten dringend entlastet werden. Dabei haben wir bereits die niedrigste Steuerquote in Europa, nur 21,7 Prozent des Volkseinkommens gingen 2001 an den Staat. Vereinfachen kann man unser Steuersystem bestimmt, gerechter könnte es auch gern sein – aber Steuersenkungen sind vollkommen überflüssig.
Denn selbst wenn man die Sozialabgaben hinzurechnet, liegen wir im Mittelfeld der Belastungen. Und keineswegs lässt sich zeigen, dass jene Länder drastisch verarmen, die ihren Bürgern hohe Abgaben zumuten. Im Gegenteil. Schweden kassiert bei seinen Bürgern über die Hälfte des Einkommens – und hatte im September eine Arbeitslosenquote von nur 5,5 Prozent.
Die Regierung Schröder diskutiert Steuern und Abgaben stets als Last – als würde das Geld in irgendeinen Mülleimer fliegen, sobald es die Verwaltung erreicht. Dabei ist das schwedische Wunder leicht zu enträtseln: Steuern bringen Nachfrage, schaffen Arbeit, zum Beispiel im Bildungsbetrieb. Gerade in deutschen Schulen und Kindergärten fehlt das Personal, wie jede Regierungskommission wieder feststellt. Eltern wissen das sowieso.
Dennoch werden niedrige Steuern weiter gesenkt – und volle Schulklassen noch voller. Dieser Zusammenhang ist zwar unausweichlich, aber trotzdem nicht gewollt. Unendlich sind die Funktionärsklagen, dass alsbald die Facharbeiter und Spitzeningenieure fehlen könnten. Solche Widersprüche verwirren Wähler.
Genauso wie ein Ritual, das sich stets im Frühjahr und im Herbst vollzieht. Dann stellen die „sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute“ jedes Mal fest, dass die deutsche Binnennachfrage lahmt. Ein echtes Problem, macht doch die heimische Kaufkraft zwei Drittel der Wirtschaftsleistung aus. Doch unbeirrt knapst Rot-Grün weiter an der Binnennachfrage: Sechs Milliarden Euro werden künftig jährlich bei den Arbeitslosen gespart, gleichzeitig sinken die Steuersätze für Spitzenverdiener. Das päppelt die Finanzanlagen im Ausland, aber nicht den Einzelhandel vor Ort.
Aber das würde selbst der Einzelhändler nicht unbedingt einsehen, da es ideologisch nicht in sein Weltbild passt. Hohe Steuern, Geld für Arbeitslose, Abschied vom Traum der Vollbeschäftigung? Oh nein, bloß nicht, da fügen sich die meisten Wähler lieber in Reformen, an die sie nicht glauben. Die Deutschen sind so mürrisch wie die Basis von Bochum. Vielleicht ist die SPD keine Volkspartei mehr – aber sie passt zum Volk.
ULRIKE HERRMANN