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Archiv-Artikel

Stagediver und Fanchöre

Popkulturelles Kontrastprogramm: Am Wochenende knallten Napalm Death in der Rockfabrik Halford und fickten das Sytem. Judith Holofernes, die Sängerin von Wir Sind Helden, kam tags darauf kaum gegen das Luftgebläse der Columbiahalle an

VON ANDREAS BECKER

Die Anreise passt schon mal gut: Auf der Warschauer Brücke wird die Freundin von einem Fußgänger vom Rad geworfen, weil man ja auf der Straße zu fahren habe. Mit ordentlich Adrenalin angefüllt, biegt man in die Revaler Straße. Rechts hinter der neuen Modersohnbrücke dann ein moderner Dienstleistungsquader mit Rewe Markt, KiK Textildiscount, dem Jugendclub Knorre, einem Jazzschuppen und der Rockfactory Halford. Eigentlich schade, dass Napalm Death nicht im KiK spielen.

Das Halford im ersten Stock ist auch aber ganz nett. Bis auf die roten Billardtische, bleiche Haut und das Bier in den Gläsern ist hier alles schwarz. Eine Wand ist aus imitierten Marshall Boxentürmen gebaut. Keiner trägt ein helles T-Shirt, Blonde haben sich die Haare gefärbt oder Mützen auf. Gemütlich. Hatte man vorher gemeint, auf einige Arschlöcher zu treffen, findet man die Darkster um die dreißig schnell sympathisch und ist froh über die eigenen einigermaßen langen Haare.

Auf der Bühne stehen zunächst noch Debauchery und brüllen Stücke aus ihrem Album „Kill Maim Burn“. Wir beobachten derweil den KiK Parkplatz, wo gerade die Polizei eine Runde dreht. Dann Napalm Death. Sie sind nur zu viert, Gitarrist Jesse Pintado ist während der mehrere Monate langen Tour irgendwie weggeknickt. Aber auch zu viert knallen Napalm Death ordentlich. Das Halford ist nicht richtig voll – woanders ist ein Punkfestival mit Suicidal Tendencies, das wahrscheinlich Publikum abzieht. Die vielleicht 200 Leute aber strömen nach vorn. Schon beim ersten Titel wird von der Bühne ins oder aufs Publikum gesprungen. Ideal für Stagediver, einen Graben vor der Bühne gibt’s nicht.

Ein Typ mit nacktem Oberkörper springt den ganzen Abend über auf der Bühne rum und wird nicht verkloppt. Der Sänger muss sich öfter umarmen lassen. Nett. Sänger-Brüller Mark ‚Barney‘ Greenway definiert schnell die aktuellen politischen Richtlinien des Abends: Fuck Bush, fuck Blair, fuck the Queen, fuck War. Ein Album von Napalm Death trägt den schönen Titel „Death By Manipulation“. Ihre aktuelle Platte erscheint bei EnemyOfTheMusicBusiness.com. An diesem Abend spielen sie in Anlehnung an die Dead Kennedys „Nazi Punks Fuck Off“ (auch als T-Shirt mit durchgestrichenem Hakenkreuz erhältlich) , was ordentlich Beifall bringt. Auf dem Rückweg fahren wir lieber nicht über die Warschauer Brücke.

Am Samstag dann das popkulturelle Gegenmodell. Obwohl sich auch Wir sind Helden politisch zeigen und neben ihrem Merchandisingstand einen Attac-Büchertisch haben. Dafür interessieren sich die vorwiegend jungen Fans aber kaum. Die kaufen lieber T-Shirts, auf denen vorn „Guten Tag“ steht – eine nett zweideutige Begrüßung, wenn man den Mädchen auf den Busen glotzt. Das Publikum besteht auch am zweiten ausverkauften Abend zum großen Teil aus Teenagern. Offenbar ist Judith Holofernes eine begehrte Identifikationsfigur. Unverstellte Natürlichkeit ist Trumpf. Holofernes, vor kurzem noch unbekannte Straßenmusikerin und bei der Zitty tätig, ist die Karriere des Jahres gelungen. Erst im Februar kam die erste Single raus, das Album „Die Reklamation“ folgte im Sommer. Es war der klassische Weg an den Plattenfirmen vorbei durchs Radio zum Hörer. Und die Parole „Wir müssen nur wollen“ passt eben gut zum Zustand der Nation, die sich so gern zum Affen macht.

Vorm Konzert war man ein wenig skeptisch, ob Wir sind Helden auch als Liveband etwas hermachen. Tatsächlich können sie sich dann über die scheinbar anspruchslose Begeisterung ihrer Fans freuen. Der Sound im Columbia ist vor allem auf dem Balkon recht dünn. Bei ruhigen Stücken kommt Holofernes nicht gegen das Pusten der Luftgebläse an. Mit wenig Verzweiflung in der Stimme singt sie Rio Reisers „Halt dich an deiner Liebe fest“. Aber auch wenn alle vier Helden loslegen, rockt es nicht wirklich. Judith klingt manchmal nach der früheren Nena. So frage ich die netten Fans neben mir, was sie zu den Helden treibt: Die Texte seien toll und die Klamotten von Judith auch. Und Nena sei doch auch okay. Angenehm schlicht in T-Shirt, Rock und langen braunen Stiefeln wirkt sie genau so sexy, dass sie für niemanden eine besondere Bedrohung darstellt. Angenehm unvampisch.

Fast jedes Stück wird mitgesungen. Vor allem bei der Zugabe ist der Fanchor gefragt, denn die Helden drehen im Columbia gleichzeitig ihr Video für das Stück „Denkmal“ – deshalb spielt man es bei der Zugabe gleich noch mal. Die 13 Stücke der Platte sind schnell verbraucht. „Die Kameras sind nicht vom bösen Fernsehen, sondern von unseren netten Videoleuten“, sagt Holofernes. Überhaupt ist sie sehr süß zu allen. Vorn bei den Verschwitzten verteilt sie ihre eigenen Wasserflaschen. Auch den Unistreik und die nächste Demo vergisst sie nicht. Wenn da mal nicht Substanz fehlt.