Dieser Bart muss ab!

Der Westen hat auch allerhand verstaubte Vorstellungen in die Vereinigung gebracht. Jetzt ist es an der Zeit, ein paar konstruktive Lehren aus den DDR-Erfahrungen zu ziehen

Das Reformtempo erscheint uns zäh: Seit der Wende sind wir andere Geschwindigkeiten gewohnt

Dass ausgerechnet ich einmal als Fachmann für das Abschneiden von Bärten gefragt sein würde, habe ich mir nach der Wende, bei meinem Eintritt in die Politik, nicht träumen lassen. Damals war einem beachtlichen Teil der westdeutschen Öffentlichkeit mein Haarwuchs wichtiger als meine politischen Gedanken. Ich bin dankbar dafür, dass ich heute nur noch im metaphorischen Sinne zu öffentlichen Rasuren aufgefordert werde. Und besonders dankbar bin ich, dass es diesmal nicht um meinen Bart geht. Denn dass unsere Landsleute im Westen manchmal viel längere Bärte hatten als wir, ist uns Ostdeutschen ja nicht verborgen geblieben.

Sehr bald mussten wir ja Bekanntschaft mit vergessen geglaubten Ansichten machen. Mit der Meinung zum Beispiel, dass öffentliche Erziehung aus Kindern Zwangsneurotiker und aus Frauen Rabenmütter macht, stand die damalige politische Mehrheit in der Bundesrepublik geistig in einer versunkenen Zeit – und obendrein europaweit allein. Kinderhorte galten vielen im Westen als Stätten der Indoktrination. Heute, fünfzehn Jahre später, bricht sich in ganz Deutschland der Gedanke Bahn, dass fehlende Ganztagsschulen zu den gravierenden Handicaps dieses Landes gehören. Um das zu verstehen, muss man nicht nach Osten schauen. Es tut auch ein Blick nach Westen, bei dem man feststellen wird, dass in Frankreich, dem Mutterland der Kinderkrippen, die Frauenquote im Management beträchtlich über der deutschen liegt.

Oder die Gesundheitspolitik: In den ostzonalen Polikliniken, so damals die Propaganda der bundesdeutschen Ärzteschaft und ihrer politischen Freunde, werde der Patient einer gleichmacherischen 08/15-Behandlung unterzogen. Heute, fünfzehn Jahre später, findet das Verlangen nach Ärztehäusern und Gemeinschaftspraxen auch im Westen immer mehr Anhänger.

Wir waren die Diktatur gewöhnt und wollten die Demokratie, kannten die Gängelei und wollten die Freiheit. Das alles haben wir bekommen. Außerdem waren wir ein ineffizientes System gewöhnt und sehnten uns nach Leistung. Dieser Wunsch wurde uns nicht so erfüllt, wie wir es gerne gehabt hätten. Was wir bekamen, war ein ausladendes Beamtensystem, in dem es zwar nicht mehr um die Nähe zur Partei und ihren Kadern, dafür aber um Dienstjahre und wohl erworbene Ansprüche ging. Für alles hatte die Westbürokratie ihre Vorschrift, für jede Vorschrift ihren Grund in einem Präzedenzfall, den jeder zu kennen schien. Nur wir nicht. Sofort ergoss sich ein großer Schwall von Verbeamtungen über die „fünf neuen Länder“, wie es damals hieß. Mit Demokratie und Marktwirtschaft kamen, sozusagen als blinde Passagiere, auch etliche Denkfiguren eines uralten preußisch-absolutistischen Staatsverständnisses, das uns DDR-Bürgern nur allzu bekannt war. Der „General Dr. von Staat“, den schon Thomas Mann kannte, hatte unter sozialistischem Vorzeichen überlebt. Als Wessi verkleidet, trug er anstelle der Uniform jetzt einen Maßanzug und gedieh auch in der anderen Hälfte unseres geteilten Landes noch prächtig.

Die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland, die jetzt auch bei uns galten, nahmen auf unsere Besonderheiten keine Rücksicht – der Fluch der Gleichheit. So haben wir auf eine nicht immer glückliche Art Bekanntschaft mit diesen Gesetzen gemacht. Was für die Bundesrepublik der Siebzigerjahre gut und richtig war, taugte nicht unbedingt für eine Gesellschaft im Umbruch zur Marktwirtschaft. Im Westen hatten etwa die Gewerkschaften eine Fülle von Vorschriften zum Lärm-, Unfall- oder Gesundheitsschutz erkämpft, gemünzt vor allem auf die Industrieriesen jener Jahre – wichtige, sinnvolle Neuerungen, für die gerade Sozialdemokraten sich stark gemacht hatten. Für die privaten Kleinbetriebe, die nach der Wende im Osten entstanden, waren aber gerade diese Vorschriften oft der Tod. Auch im Westen hat man ja erst die Betriebe aufgebaut und dann das Gästeklo eingerichtet, nicht umgekehrt. Oder nehmen wir die Wissenschaftler: Es mag seinen guten Sinn haben, den Ausweis wissenschaftlicher Qualifikation vor allem in möglichst zahlreichen Publikationen und in Auslandsaufenthalten zu sehen. Schickte man einen noch so guten Ostdeutschen in diese Konkurrenz, konnte er nur verlieren.

Auch das westliche Erfolgssystem war damals schon reformbedürftig. Aber 1990 war der Osten in der Rolle des Lehrlings: Ein gescheitertes und ein erfolgreiches System kamen zusammen. Das war keine günstige Gelegenheit, alles sorgfältig zu prüfen und wenn nötig zu reformieren. Das hat sich geändert. Heute können wir Ostdeutschen Gewinn bringend mitreden und unseren noch immer fremden Blick auf viele Eigenheiten des westdeutschen Systems einbringen. Brauchen wir wirklich für einen immer noch wachsenden Teil der erwerbstätigen Bevölkerung ein öffentliches „Dienstrecht“ mit „Versorgung“ und „Verwendung“ wie unterm Alten Fritz? Wozu haben wir noch immer verschiedene, nach Ständen geordnete Systeme der Alterssicherung? Warum stellen wir mit dem Ehegatten-Splitting den Typus der Hausfrauenehe, mit dem ja vor allem die meisten Betroffenen nicht glücklich sind, immer noch unter Denkmalschutz? Schaffen wir es wirklich nicht, das barocke Steuersystem mit seinen tausend Ausnahmen klar und gerecht zu machen?

Auf die meisten dieser Fragen erntet man auch im Westen viel bestätigendes Kopfnicken. Trotzdem geht es nur zäh voran. Wir Ostdeutschen sind ganz andere Veränderungsgeschwindigkeiten gewöhnt. In der Zeit, die in unserem geeinten Vaterland auf die eingehende Erörterung der Eigenheimpauschale aufgewendet wird, haben wir Ostdeutschen eine ganze politische Klasse abgewickelt, das gesamte Rechtssystem umgestellt und uns, leider viele ohne Erfolg, eine neue Arbeit gesucht. Nicht dass dieses Tempo zur Normalität werden sollte. Aber wer es einmal erlebt hat, wird gegenüber manchen Entscheidungsprozessen doch von heiliger Ungeduld erfasst.

Dass die Reformen nicht richtig vorankommen, liegt vor allem an den Mängeln unseres politischen Systems. In allen wichtigen Fragen entscheidet bei uns eine Art ewige große Koalition. Fast immer muss der Bundesrat zustimmen. Das harte, aber gesunde Prinzip, dass die Bürger über ihre Wählerstimme Ja und Nein sagen und der einen Option vor der anderen den Vorzug geben, wird damit außer Kraft gesetzt. Wir brauchen eine klarere Verteilung der Kompetenzen an den Bund und an die Länder, damit wieder klarere Entscheidungen fallen. Ein weiterer Mangel ist das juristische Politikverständnis, das in diesem Lande noch immer herrscht. Politik wird von vielen Politikern, aber auch von vielen Medien nicht als Gestaltungsaufgabe, sondern als Verfertigung von Vorschriften verstanden. Der Bundestag hat in diesem Politikbild die Aufgabe, das Grundgesetz in Einzelgesetze umzuformulieren – so wie Verwaltungsbeamte ja auch die vorgegebenen Normen immer nur auslegen. Nur nichts wollen! Absichten, wenn man welche hat, gilt es zu verstecken – und manche verstecken sie so gut, dass sie sie gar nicht mehr wiederfinden. Bei jeder neuen Idee kommt sofort die ängstliche Frage, ob der Einfall mit diesem oder jenem Rechtsgrundsatz vereinbar ist. Wer aus solchen Reden die Souveränität des Volkes heraushören will, muss schon ein sehr feines Ohr haben.

Ob Kinderhorte oder Polikliniken – der Westen war 1990 geistig in einer längst versunkenen Zeit

Man sieht mir an, dass ich kein großer Freund von Rasuren bin, und ich gehöre auch nicht zu denen, die in der Politik fortwährend das Abschneiden von alten Zöpfen (oder gar von Bärten) fordern. Ich bin allerdings sicher, dass das ganze Land heute von dem Schwung, dem Tempo und der Lust an der Veränderung, wie wir Ostdeutschen sie in lebhafter Erinnerung haben, noch viel mehr profitieren könnte. Wenn es denn wollte.

WOLFGANG THIERSE