: Eine tapfere Mutter
Hicran musste als 14-Jährige ihren 21-jährigen Cousin heiraten. Nach 16 Jahren trennte sie sich von ihm
Sie hat sich in ihrem Bett verkrochen. Sie hat vor Wut getrampelt, geweint, geheult und geschrien. Es hat nichts genutzt. Die 14-jährige Türkin Hicran* musste ihren 21-jährigen Cousin Ali* heiraten. Ebenjenen Ali, der schon lange im Haushalt von Hicrans Eltern lebte und für das Mädchen wie ein Bruder war.
Es war Hicrans Mutter, die die Zwangsheirat gegenüber dem Vater durchgesetzt hatte. „Willst du, dass unsere Tochter eine Hure wird?“, fragte sie den Metallarbeiter, der von Ostanatolien nach Berlin ausgewandert war. Dass seine Frau mit Hicrams Verheiratung ganz persönliche Absichten verfolgte, erfuhr der Mann erst viel später.
Die Trauung fand am 13. November 1982 in Steglitz statt. Der Imam kam in die Wohnung. Ein paar Tage später wurde mit über hundert türkischen Verwandten und Freunden groß gefeiert. Alle waren fröhlich und ausgelassen. Alle, bis auf das Mädchen im weißen Kleid und Schleier. „Ich war eine sehr traurige Braut“, sagt Hicram, die heute 36 Jahre alt ist. Mit Grausen erinnert sie sich an die Hochzeitsnacht. Die Eltern waren für die Nacht zu Freunden gezogen. Niemand war da, der ihr Schreien hörte. Tags darauf, sagt Hicran, habe sie vor Schmerzen kaum laufen können. „Ich habe immerfort gedacht: Ist das jetzt jedes Mal so?“
Wenn die Ehe geschlossen ist, fügen sich die meisten Mädchen in ihr Schicksal, weiß Hicran. Eine Frau, die ihren Mann verlasse, müsse sehr stark sein, sonst halte sie dem Druck der Angehörigen nicht stand. „Alles dreht sich um verletzte Ehre und Schande.“
Hicran hat Ali den Rücken gekehrt, nachdem sie sich 16 Jahre lang in ihr vermeintliches Schicksal gefügt hatte. Sie war inzwischen Mutter von zwei Töchtern und Inhaberin eines kleinen Gemüseladens. Als sie das Geschäft zum Verkauf ausschrieb, kam es zu einer Begegnung mit einem türkischen Kaufinteressenten aus Norddeutschland, die ihr Leben veränderte. Sie verliebte sich in den Mann. „Wir hatten nie eine Beziehung, aber plötzlich wusste ich, was Liebe ist.“
Dieses Erlebnis, so Hicran, habe ihr die Kraft gegeben, sich von Ali zu lösen. Als sie ihm die Entscheidung mitteilte, schlug er sie. Es war ein langer Weg bis zur Trennung. Erst kroch Hicran bei einer Freundin unter und wurde dort von ihrer Familie und Ali zur Rückkehr gedrängt. Als es hieß, eine ihrer Töchter sei schwer erkrankt und rufe nach ihr, kehrte sie zurück. Acht Monate später unternahm Hicran einen zweiten Anlauf. Diesmal lockte sie der Mann mit dem Versprechen zurück, er habe die Wohnung freiwillig verlassen. „In Wirklichkeit hingen noch seine gesamten Sachen im Schrank.“ Das war im Jahr 2000.
Diesmal suchte und fand Hicran beim Frauenprojekt Hilfe. Sie kam in einem Zimmer in einer Zufluchtswohngemeinschaft für Frauen unter und ertrotzte in einem langwierigen Verfahren das Recht, ihre Kinder zu sehen, und die Scheidung von Ali. Aber es sollte noch bis zum Sommer 2003 dauern, dass Mutter und Töchter wieder zusammenwohnten. „Ich habe darauf gewartet, dass die Mädchen freiwillig zu mir kommen. Ich wollte sie zu nichts zwingen.“
Vor wenigen Wochen ist Hicran mit den 12 und 16 Jahre alten Mädchen von der Wohngemeinschaft in eine eigene Wohnung umgezogen. Mit ihrer Familie hat sie für immer gebrochen. Der Grund dafür ist nicht nur die Zwangsheirat mit Ali. Die ganze Wahrheit sei, dass ihre Mutter als junge Frau über viele Jahre ein sexuelles Verhältnis zu Ali unterhalten habe, sagt sie. Vor und nachdem dieser Hicran heiratete. „Durch meine Hochzeit wollte sie sich vor allem die eigene Beziehung zu ihm sichern.“ Hicrans Töchter kennen die ganze Wahrheit noch nicht. „Sie werden sie erfahren“ sagt Hicran, „sobald sie mich fragen.“ PLUTONIA PLARRE
*Namen geändert