Die harte Schwester

Mayawati hat durch kluge politische Schachzüge die Unterstützung von Brahmanen und Muslimen gewonnen

Die Dalits, Indiens ehemals „Unberührbare“, machen mit 170 Millionen Menschen rund ein Sechstel von Indiens Bevölkerung aus. Der Begriff „Dalit“ ist eine Eigenbezeichnung, die sich von dem Hindibegriff dalna ableitet und sich frei als „Zerschlagene“ oder „Unterdrückte“ übersetzen lässt. Indien hat das Kastensystem eigentlich abgeschafft, dennoch werden Dalits vor allem auf dem Land noch heute häufig massiv unterdrückt. Sie leben oft am Rand ihrer Dörfer in eigenen Gemeinschaften. Seit Indiens Unabhängigkeit sind viele Dalits sozial aufgestiegen. Ein staatliches Reservierungsprogramm bevorzugt Dalits bei der Vergabe von Studienplätzen und öffentlichen Arbeitsplätzen. In einigen stark reformorientierten Tempeln sind Dalits sogar als Priester angestellt. ZAS

AUS DELHI SASCHA ZASTIRAL

Ihre Anhänger nennen sie respektvoll „Behenji“ (ehrwürdige Schwester), gegen ihre Gegner jedoch zeigt sie eiserne Härte: Chandawati Devi oder „Mayawati“, 53, die Ministerpräsidentin des nordindischen Bundesstaates Uttar Pradesh. Bei der Wahl zum indischen Unterhaus, die an diesem Donnerstag beginnt, könnte sie die entscheidende Rolle spielen.

Uttar Pradesh stellt mit seinen 190 Millionen Einwohnern ganze 80 Sitze in der 545 Abgeordnete umfassenden Lok Sabha, dem Unterhaus des indischen Parlaments in Delhi. Prognosen zufolge könnte Mayawati mit ihrer Bahujan Samaj Party (BSP) allein in ihrem Bundesland mehr als die Hälfte der Sitze holen. In den übrigen Teiles Indiens könnte sie weitere 20 bis 30 Sitze erringen. Dann käme keine zukünftige Regierung ohne sie zustande. Denn zwischen den beiden großen Machtblöcken in Indiens Politik zeichnet sich ein Patt ab: Vermutlich wird weder die regierende Vereinte Fortschrittsallianz um die Kongresspartei noch die oppositionelle Nationaldemokratische Allianz der Hindu-nationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) genügend Sitze erringen, um allein die Regierung zu stellen. Mayawati könnte eine der beiden Koalitionen an die Macht bringen und sich ihre Unterstützung mit einem hohen Posten in der zukünftigen Regierung vergolden lassen. Den Machtinstinkt, sich geschickt den Weg nach oben zu ebnen, besitzt sie.

Mayawati stammt aus der untersten Schicht von Indiens Gesellschaft: Sie ist eine Dalit, eine Angehörige der einst „Unberührbaren“, zu denen in Indien mehr als 170 Millionen Menschen zählen. 1984 gründete sie mit dem Dalit-Aktivisten Kanshi Ram die BSP, um für die Rechte der Unberührbaren einzutreten. 2001 wurde sie seine Nachfolgerin.

Mayawati ist bereits zum vierten Mal Ministerpräsidentin des riesigen Armutslands Uttar Pradesh. 1995 und 1997 führte sie kurz Koalitionen an, die jedoch bald zerbrachen. Von 2002 bis 2003 regierte sie in einer Allianz mit den Hindu-Nationalisten. 2007 war ihr großes Jahr: Ihre Partei holte bei den Landtagswahlen die absolute Mehrheit der Sitze, und Mayawati wurde zur Ministerpräsidentin des Bundesstaates. Ihr Erfolg beruht auf einem cleveren politischen Schachzug: Schon früh zeigte sich, dass die Dalits als Machtbasis nicht ausreichten, um der BSP eine dauerhafte Mehrheit zu verschaffen. Die Mitglieder der untersten Hindu-Kasten stellen in keinem Wahlkreis die Mehrheit. Daher begann Mayawati bereits früh, Muslime und Mitglieder anderer niedriger Kasten für sich zu gewinnen. Es gelang ihr sogar, die Brahmanen – die Mitglieder der hoch angesehenen Priesterkaste am obersten Ende der Kastenhierarchie – zu Unterstützern ihrer Partei zu machen.

Die großen Volksparteien, die Kongresspartei und die BJP, vertreten in Regierungen immer stärker die Interessen der wachsenden Mittelschicht. Die untersten Kasten der Gesellschaft profitieren von einem staatlichen Unterstützungs- und Reservierungssystem, das ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichen soll. Paradoxerweise pochen deswegen ausgerechnet sie auf den Erhalt des Kastensystems. Denn aus der jahrtausendealten Diskriminierung ist zum ersten Mal ein Vorteil erwachsen. Die Mitglieder der hohen Kasten gerieten vor allem in den vergangenen 20 Jahren immer mehr ins Hintertreffen. Daher schlossen sich in den 1990er-Jahren viele Brahmanen der Hindu-nationalistischen BJP an und verhalfen ihr zu ihrem Aufstieg. Doch viele wandten sich mit der Zeit wieder enttäuscht ab. Nun richten etliche Brahmanen ihre Hoffnungen ausgerechnet auf die Dalit-Anführerin Mayawati.

Dabei stammt sie selbst aus einer Familie, die von den Reservierungsprogrammen profitiert hat. Ihr Vater erhielt auf diesem Weg eine gut bezahlte Stelle als Beamter in der Hauptstadt Neu-Delhi. Sie selbst erhielt reservierte Studienplätze und machte ihren Abschluss in Jura und Erziehungswissenschaften, anschließend arbeitete sie als Lehrerin. Ende der 1970er begann sie, für den Dalit-Aktivisten Kanshi Ram zu arbeiten, mit dem sie später die BSP gründete. Mit Mayawatis wachsendem Erfolg stieg auch die Zahl ihrer Kritiker. Viele Beobachter reagieren mit Entsetzen auf die gewaltigen Festbankette, mit denen die Politikerin alljährlich ihre Geburtstage zelebriert. Zu diesen erscheint sie meist mit schweren Diamantencolliers behangen – während vor allem auf dem Land noch immer Millionen Dalits in bitterer Armut leben. Aufsehen erregte auch ihre Steuerklärung für 2007/2008: Damals zahlte sie beinahe 4 Millionen Euro Einkommensteuern, obwohl sie aus relativ einfachen Verhältnissen stammt.

Ein Skandal um den Bau von Luxushotels und einem Einkaufszentrum in der Nähe des Tadsch Mahal in Agra kostete sie 2003 das Amt. Damals genehmigte sie den Abriss eines Teils des Armenviertels, das den weltberühmten Bau umgibt, und wollte das Land Investoren zur Verfügung stellen, obwohl sie als Ministerpräsidentin gar nicht dazu berechtig war.

Korruptionsvorwürfe wurden immer lauter, die Hindu-Nationalisten stiegen letztlich aus der Koalition aus. Doch Mayawati überstand die Krise und widmete sich in der Folgezeit ihrem Einstieg in Indiens nationale Politik. Welcher der beiden großen Parteien Uttar Pradeshs „ehrwürdige Schwester“ nach der Wahl ihre Unterstützung schenken wird, ist bislang völlig offen. Mayawatis Bahujan-Samaj-Partei tritt im Verband der „dritten Front“ an, eines Sammelsuriums von linken und Regionalparteien, das sich erst kürzlich gebildet hat.

Doch Beobachter sind sich sicher, dass sie keine Sekunde zögern wird, aus der Parteienallianz auszusteigen, sobald sich ein Posten auf Regierungsebene anbietet. Die Kongresspartei greift Mayawati in ihren Reden immer wieder scharf an, weil diese mit ihrer Politik nur „den Reichen“ helfe. Die Hindu-Nationalisten der BJP hat sie sich kürzlich mit einem taktischen Zug zum Feind gemacht: BJP-Nachwuchsstar Varun Gandhi, Mitglied eines abgefallenen Teils des mächtigen Gandhi-Nehru-Clans, ließ sie wegen Verstoßes gegen einen Staatsschutzparagrafen einsperren. Der 29-Jährige hatte im März in seinem Wahlkreis Pilibhit in Uttar Pradesh bei einer Wahlkampfveranstaltung eine brutale Hetzrede gegen Muslime gehalten. Mit seiner Verhaftung sicherte sich Mayawati die Stimmen vieler muslimischer Wähler.

Der Machtpoker um die Bildung der kommenden Regierung beginnt am 16. Mai, wenn die Ergebnisse der Wahl bekannt gegeben werden sollen. Für den Generalsekretär von Mayawatis Partei, Naseemuddin Siddiqui, war der Ausgang der Verhandlungen bereits im Januar klar: „Sie wird Premierministerin!“