: Aufstand der AnständigenRenan Demirkan
Nach dem Mord an Theo van Gogh und den Unruhen in den Niederlanden melden sich jetzt muslimische Deutsche zu Wort – und fordern ein Ende der multikulturellen Kuschelpolitik
Der niederländische Ministerpräsident Jan-Peter Balkenende hat sich schützend vor alle Menschen seines Landes gestellt. Er hat zu den Terroristen gesagt: Lasst sie in Ruhe, unsere Menschen und auch unsere Kirchen. Er möchte, dass der Spaltung kein Platz gegeben wird. Nein, die multikulturelle Gesellschaft ist keineswegs aufgekündigt, denn es gibt keine Alternative zu ihr. Die Niederländer wissen das, und dafür bewundere ich sie, für ihr Grundbekenntnis zu den Menschenrechten. Sie schwenken Plakate mit der Aufschrift „Lasst uns unsere Gedanken“, Deutschland kann von ihnen und ihrem Ministerpräsidenten nur lernen, vor allem, dass auch wir uns nicht spalten lassen dürfen. Es wird gewiss auch hier Politiker geben, die versuchen werden, van Goghs Ermordung für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, ich höre bereits die „völkischen Trommler“ (Tucholsky). Eine solche, absolut zu verurteilende, Einzeltat ist Futter für die geistig Armseligen, die Vernünftigen hingegen werden sich nicht beirren lassen. Ich bin überzeugt, dass wir nur dann friedlich miteinander leben können, wenn wir das Gebot RESPEKT akzeptieren. Van Goghs Anliegen war es, den politischen Islam zu kritisieren. Er hat einen Konflikt ästhetisch umgesetzt und dabei die Gefühle vieler Gläubiger verletzt. Allerdings gibt es eine Freiheit der Kunst, nicht er ist zu weit gegangen, sondern sein Mörder.
Renan Demirkan, 49, geboren in Ankara, ist Autorin und Schauspielerin
Seyran Ates
Als ich die Nachricht vom Tod Theo van Goghs gehört habe, dachte ich: Das haben wir von der Naivität, die die Mehrheitsgesellschaft ihrer muslimischen Minderheit gegenüber bisher an den Tag gelegt hat. Ein Mord als Ergebnis einer falschen Integrationspolitik, geprägt von falscher Toleranz und getrieben vom Wunsch nach einer multikulturellen Gesellschaft, in der alle Kulturen miteinander existieren. Nun ist hoffentlich auch der letzte Kuschelpolitiker aufgewacht. Wenn die Mehrheitsgesellschaft sich eher um die Zustände in der Parallelgesellschaft gekümmert hätte, könnte Theo van Gogh noch leben.
Seyran Ates, 41, Deutsche und Türkin, Autorin („Große Reise ins Feuer“, Berlin 2003) und Anwältin in Berlin; Kämpferin gegen Zwangsverheiratungen und häusliche Gewalt
Bali Saygili
Man hat die Integration der Migranten in Westeuropa zu spät begonnen, weil die toleranten Selbstbilder der Gesellschaft nicht beschädigt werden sollten. Genau darin liegt das ganze Problem: Die Niederlande wollten in kürzester Zeit nachholen, was man dort lange versäumt hat. Bei diesem Konflikt geht es nicht um Religionen, sondern um die Weltanschauung der einzelnen Communities. Hier prallen Welten aufeinander, und die radikalen Kräfte drehen die Spirale weiter hoch. Muslime leben in Europa sehr frei – sie, ja wir sollten diese Freiheit auch gegen Radikale in den eigenen Reihen verteidigen.
Bali Saygili, 37, geboren im Tokat am Schwarzen Meer, ist Elektrotechniker und Mitglied des Landesvorstands vom Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg
Volkan Baydar
Es ist ein Phänomen, dass extreme Religionsanhänger genau die Punkte missachten und übergehen, die für mich die Essenz Gottes bedeuten, nämlich Liebe und Toleranz.
Volkan Baydar, 32, ist in Hamburg geboren und Sänger der Gruppe Orange Blue („Panta Rhei“)
Zafer Senocak
Es gibt zu viele Islamexperten und zu wenige Muslime, die denken. Daran wird sich auch nichts ändern, weil der Islam inzwischen ein Medienereignis ist, der blutige Ereignisse braucht, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ich jedenfalls sehne mich nach dem friedlichen Islam meiner Kindheit, wie er im Istanbul der Sechzigerjahre gelebt wurde, fern von Kopftuchdebatten und mordlustigen Kopfjägern. Doch für nostalgische Gefühle ist heute weder Anlass noch Platz. In den Köpfen derer, die die Welt in Gut und Böse aufgeteilt haben, kann es nur den Konflikt geben. Kein Wunder, dass in einer so strukturierten Welt Künstler nicht überleben und jede geistige Regung bitter schmeckt. Es ist an der Zeit zu begreifen, dass nicht alles geht und unsere Welt nicht allein aus virtuellen Fantasien besteht. Die Postmoderne ist tot!
Zafer Senocak, 43, geboren in Ankara, ist Schriftsteller und lebt seit 1970 in Deutschland
Ipek Ipekcioglu
Ich fand das Attentat auf Theo van Gogh schrecklich. Ich bin gegen Gewalt, auch gegen jene, die angeblich im Namen des Islam verübt wird – ich bin auch grundsätzlich gegen jede Politisierung Allahs. Ich glaube an Allah, auch wenn ich kein Kopftuch trage und den Ramadan nicht einhalte, der Islam verbietet nicht die freie Meinung. Ich kann jedoch nicht verstehen, mit welcher Arroganz säkularisierte Westeuropäer auf Muslime herabschauen. Manche benehmen sich, als glaubten sie, einer besseren Rasse anzugehören. Menschen, die als „Ziegenficker“ bezeichnet werden, fühlen sich natürlich angegriffen. Soll ich jetzt die Europäer kollektiv als „Kinderficker“ bezeichnen, nur weil es in Europa nachweislich eine Kinderpornoindustrie gibt? Natürlich durfte Theo van Gogh den Islam kritisieren, aber er hätte es mit Respekt tun müssen. Und jetzt geht aufgrund einer Einzeltat erneut die antiislamische Hetze los. Europa ist paralysiert durch die Bush-Administration, Europa kann nicht mehr mit offenen Augen sehen. Das Attentat in den Niederlanden, verübt von einem einzigen Islamisten, wird die Polarisierung vorantreiben. Ach ja, dies ist wichtig zu sagen: Eine multikulturelle Gesellschaft gibt es in Deutschland noch gar nicht, also ist sie auch nicht gefährdet.
Ipek Ipekcioglu, 32, Sozialpädagogin, ist eine der populärsten DJanes in Berlin
Ralph Ghadban
Das war auch ein Attentat auf die Meinungsfreiheit, also auf unsere Freiheit. Das hat mich, ohne die Meinung von Theo van Gogh zu teilen, tief getroffen, gerade mich, der aus dem Nahen Osten kommt und die Meinungsfreiheit zu schätzen weiß. Viel zu lange haben uns Multikulturalisten weismachen wollen, dass der Islamismus eine religiöse Variante und keine totalitäre Bewegung ist, und daher unter dem Schutz der Religionsfreiheit steht. Viele von ihnen haben nicht begriffen, was Demokratie ist, was Trennung von Staat und Religion bedeutet und wo Toleranz ihre Grenze erreicht. Vom Massaker im fernen Beslan war man schon betroffen. Amsterdam ist aber vor unserer Tür, fast zu Hause. Die Multikulturalisten billigen immer noch eine Parallelgesellschaft, in der eine Gegenkultur gegen unsere Gesellschaft gepflegt wird. Wie lange noch?
Ralph Ghadban, 55, geboren im Libanon, lebt als Islamwissenschaftler und Migrationsforscher in Berlin
Feridun Zaimoglu
Als ich in der Zeitung von der Ermordung van Goghs las, habe ich mich fast erbrochen. Jetzt brennen Moscheen und Kindertagesstätten. Der große Traum von der friedlichen Koexistenz, was immer das ist – ist er ausgeträumt? Die Fanatiker führen eine religiöse Motivation ins Feld, die man ihnen nicht abkaufen sollte. Es sind nur wenige – dennoch kann man nun von einer „Ausweitung der Kampfzone“ in den Niederlanden sprechen. Die Ermordung van Goghs ist ein barbarischer Akt und durch nichts zu entschuldigen. Punkt. Erst nach diesem Punkt kann man jedoch fragen: Stand van Gogh alleine da? Nein, denn es ist en vogue geworden, auf Muslime einzuschlagen. Man denke nur an Oriana Fallaci, die Muslime als Ratten und Geschmeiß bezeichnet. Ich bin gläubiger Muslim und finde, dass längst eine Grenze überschritten wurde, und zwar die des guten Geschmacks. Dennoch besteht für niemanden Anlass zu klammheimlicher Freude, nicht darüber, dass es mit van Gogh den „Richtigen“ getroffen hat. Die hierzulande üblichen Kulturkämpfer werden so lange Vergleiche mit den Niederlanden ziehen, bis es passt. Aber hier ist Deutschland, und wir verfügen über genügend Selbstreinigungskräfte, um mit den Islamofaschisten fertig zu werden.
Feridun Zaimoglu, 39, Schriftsteller
Kenan Kolat
Jeder Mensch hat das Recht, auf dieser Welt unversehrt zu leben. Theo van Goghs Tod hat mich bestürzt. Viele Reaktionen auf seine Ermordung haben mich aber gestört. Übersehen wird, dass Gefühle des Hasses zunehmen. Ich finde, man muss jetzt mit kühlem Kopf überlegen, welche Schlüsse man ziehen muss. Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher – sonst entstehen wirklich Parallelgesellschaften. Ignoranz ist keine gute Antwort. Das Andere wird als Bedrohung. Das dürfen wir nie zulassen. Bis jetzt haben wir nie ernsthaft über die Probleme miteinander diskutiert oder uns sehr wenig umeinander gekümmert. Beide Seiten haben versäumt, die jeweils andere Seite zu verstehen. Mitgefühl ist das Gebot der Stunde. Am 22. November gibt es in Köln eine Demonstration gegen Gewalt von islamischer Seite. Ich unterstütze diese Aktion sehr. Aber ich wünsche mir, dass viele Nichtmuslime sich beteiligen. Sie mögen uns nicht allein lassen!
Kenan Kolat, 45, ist stellvertretender Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland und lebt in Berlin
Sanem Kleff
Die Ermordung van Goghs hat mich bestürzt, aber nicht überrascht, denn ich weiß aufgrund meiner Erfahrungen aus der Türkei, zu welch brutalen Taten Islamisten in der Lage sind. Hunderte van Goghs wurden dort in den letzten Jahrzehnten ermordet. Die Niederlande machten den typisch europäischen Fehler, nicht zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden. Die Folge: Radikale politische Organisationen konnten sich als harmlose Glaubensgemeinschaften tarnen. Nun ist das Entsetzen groß und das Pendel schlägt ins andere Extrem. Die erste muslimische Grundschule wurde niedergebrannt, wann wird die erste Großmutter mit Kopftuch erschlagen? Auch die „Rächer“ van Goghs unterscheiden nicht zwischen Islam und Islamismus. Deutschland sollte aufhören, in Holland ein multikulturelles Vorbild zu sehen. Höchste Zeit, sich zu besinnen.
Sanem Klef, 49, geboren in Ankara, engagiert sich als Pädagogin gegen Rassismus
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