: 217 Fälle von Zweifel und Leid
Spätabtreibungen sind selten. Die Debatte um sie ist emotional aufgeladen: Die Union fordert jetzt, per Gesetz die Hürden für betroffene Frauen zu erhöhen. Rot-Grün sieht die Frauen unter Druck
VON ANJA MAIERUND COSIMA SCHMITT
Sieben Monate sind vergangen. Ein faustgroßes Babymützchen wird in ein Schubfach geräumt. „Das Kind war tot“, sagen die hinterbliebenen Eltern. Was sie nicht sagen, ist, dass sie zugestimmt haben, das Kind zu töten, bevor die Mutter es geboren hat. Denn eine solche Entscheidung ist kaum vermittelbar.
217 Fälle von Spätabtreibung zählte das Statistische Bundesamt im letzten Jahr, 128.030 Abtreibungen gab es insgesamt. Der Abbruch nach der 23. Schwangerschaftswoche ist rechtlich zulässig, seit 1995 die Parteien den Abtreibungskompromiss verabschiedeten. In einem Punkt stimmten sie damals überein: Ein Embryo sollte nicht sterben, weil er behindert ist. Deshalb schafften sie die bis dahin mögliche „embryopathische Indikation“ ab. Spätabtreibung firmiert seither als „medizinische Indikation“.
Hier ist es das Wohl der Mutter, das für die Zulässigkeit des Eingriffs ausschlaggebend ist. Ist die Frau seelisch oder körperlich gefährdet, ist eine Abtreibung noch bis zur Geburt möglich. Anders als bei einer Abtreibung in der Drei-Monats-Frist ist hier nicht vorgeschrieben, sich vor dem Abbruch beraten zu lassen.
„So kann es nicht bleiben“, erläuterte gestern im Bundestag die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Maria Böhmer die Position der Union. „Vermeidung von Spätabtreibungen – Hilfen für Eltern und Kinder“ hieß deren Antrag. Der sieht auch für späte Schwangerschaftsabbrüche eine psychosoziale Pflichtberatung – für beide Elternteile – vor sowie eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Gespräch und Eingriff. Zudem soll ein interdisziplinär besetztes Ärztegremium die Diagnose abschließend prüfen.
Eltern, die sich für ein Leben ohne ihr ursprünglich gewünschtes Kind entscheiden, haben immer eine Zeit des Leidens und Zweifels hinter sich. Im Laufe der Schwangerschaft reiht sich dank ausgefeilter vorgeburtlicher Diagnostik ein Befund an den nächsten, wechseln sich Phasen des „Wir schaffen das“ mit absoluter Mutlosigkeit ab.
Wo endet das Recht des Kindes, wo beginnt das der Mutter? Eine Frage, die durch „restriktive Regelungen zu keiner Zeit“ beantwortet werden konnte, wie SPD und Grüne in ihrem Gegenantrag betonten. Christel Riemann-Hanewinckel (SPD), Staatssekretärin im Familienministerium, betonte in ihrer Erwiderung, die vom Parlament beschlossene Fristenregelung sei „nicht ergänzungsbedürftig“.
Die Union verweist in ihrem Antrag auf ein weiteres Problem. Eltern eines behindert geborenen Kindes können den Arzt auf Schadenersatz verklagen. Manche Ärzte rieten in unklaren Diagnosesituationen deshalb eher zum Abbruch der Schwangerschaft. „Viele Ärzte drängen die Frauen“, so Maria Böhmer. Vor diesem Hintergrund schlug die Unionsfraktion vor, zu prüfen, ob sich die Arzthaftung – wie zum Beispiel in Frankreich – künftig auf „grobe Fahrlässigkeit“ beschränken ließe.
„Dieser Antrag will die Position der Ärzte stützen“, lautete die Kritik der SPD am Unionsantrag. Riemann-Hanewinckel forderte stattdessen die Bundsärztekammer auf, endlich verbindliche Richtlinien zu verabschieden und vor allem die Gepflogenheit kritisch zu prüfen, jede Schwangerschaft „gezielt auf Auffälligkeiten“ zu prüfen und damit Schwangere unter Druck zu setzen. „Es gibt ein Recht auf Nichtwissen“, so die Staatssekretärin.
Irmingard Schewe-Gerigk (Grüne) bescheinigte der Union ein grundsätzliches „Misstrauen gegenüber schwangeren Frauen“. Ihre Entscheidung müsse respektiert und ihnen geholfen werden, mit der Trauer um ihr totes Kind umzugehen. Ein Kind, das sie sich gewünscht hatten.
Die Anträge wurden gestern zur weiteren Beratung in die Ausschüsse verwiesen.
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