Der Grande und die Hundefriseurin

Grund war als Schwuler zur Heimlichtuerei gezwungen. Denn im Westen war Homosexualität bis 1969 kriminalisiert wie unter den Nazis. Rita T. lebte als Lesbe in Ostberlin. Dort war die Gesetzgebung zur Homosexualität an jene der Weimarer Zeit angelehnt. Zwei Porträts von WALTRAUD SCHWAB

Der Westberliner

Grund nennt sich Grund. Seine Vornamen gibt er nicht preis. Wenigstens an der Stelle soll sein Inkognito gewahrt bleiben. Er wolle die Missachtung seiner Nachbarn nicht länger zu spüren bekommen, bloß weil er schwul ist. Dabei hat er bisher in seinem Leben nie einen Hehl daraus gemacht, dass er Männer begehrt. „Ich danke Gott, dass ich homosexuell bin, und ich hoffe, dass ich es in einem weiteren Leben wieder sein kann“, sagt er.

Dennoch: Grund hat zu viele Biedermänner über zu viele Schwulenwitze lachen gehört. „Nach dem Motto: Achtung, da kommt einer. Nicht bücken.“ Grund sagt es mit Empörung in der Stimme. Er will so was nicht länger ertragen. Aber sein Zorn wird selbst heute immer wieder neu entfacht. Vor kurzem erst soll Rudi Carell im Fernsehen Günther Jauch gefragt haben, ob er wisse, warum Wowereit, der Berliner Bürgermeister, nicht in die arabischen Länder fahre? Auf Jauchs Verneinung hin soll Carell auf die Knie gefallen sein und die Muslime bei ihrem Gebet nachgeäfft haben. Dabei habe er seinen Hintern in die Luft gestreckt und blöd „deshalb“ gesagt. „Von Jauch hätte ich Protest erwartet“, meint Grund. „War aber nicht.“

Grund sitzt mit seinem Freund Fox (Name geändert) im Wohnzimmer, das wie ein Museum der persönlichen Erinnerungen wirkt. Grund ist ein Sammler. Alle Eintrittskarten zu Opernbesuchen, alle Fotos aus seinem früheren Leben, sind archiviert. Dazu Muscheln und geschnitzte Elefanten aus Afrika, griechische Jünglinge aus Gips und prächtig dekorierte Buddhas, tanzende Konkubinen auf Wandtellern und Fotos von ihm und Fox aus jüngeren Tagen in Colombo. Braun gebrannt die beiden und eng umschlungen.

Grund und Fox sind viel gereist in dem Vierteljahrhundert, seit sie ein Paar sind. Bei Schwulen kommt eine so lange Beziehung nicht so oft vor. Jemand hat den beiden zum Jubiläum der Freundschaft einen Pokal geschenkt. Fox ist 25 Jahre jünger als Grund. Er könnte sein Sohn sein. Wie ist es für den Jüngeren, dass der Freund nun nicht mehr die Lebenskraft von früher versprüht? „Liebe ist, was nach dem Begehren bleibt“, antwortet der.

Grund wurde 1931 in Schwaben geboren. „Begnadet von der späten Geburt.“ Ein paar Monate älter und er wäre noch beim Volkssturm verheizt worden, meint er. „Viele sind da in den letzten Tagen gestorben. Kinder wie ich.“

Erfahrungen, die für mehrere Leben reichen, hatte er 1945 sowieso schon. Unehelich war er. Sein Vater ein ungarischer Musiker. Seine Mutter, eine Wäscherin, verschlug es mit dem Kind nach Berlin. Sie hatte in Tempelhof ihr Geschäft. Grund kennt sich aus im Gardinenspannen und Kragenplätten. Dazu Verschickungen aufs Land. Jungvolk, Pimpfenprobe, Hitlerjugend. Er hasste es, sich in Pfützen fallen lassen zu müssen.

Als die Nazis den Nachweis wollten, dass er arisch sei, kam Kontakt zum Bruder seines Vaters zustande. „In Wien ein hohes SA-Tier. Seine Gemahlin war Opernsängerin. Küss die Hand, gnä Frau.“ Grund fällt in einen österreichischen Akzent, denn als er zehn war, lebte er ein Jahr lang bei den Herrschaften. „Das ist halt mein Leben: Krieg, Bombennächte, Hunger, Nachkriegszeit, Versteckspielzeit.“

„Wer hungert, denkt nicht an Sexualität.“ Statt sich als Teenager am Geschlecht auszuprobieren, saß er auf den Hamsterzügen. Als der Bauch wieder voll war, hatte er die Phase übersprungen, in der er sich wegen seiner Neigungen hätte Sorgen machen müssen. Er hatte sie einfach. Männer faszinierten ihn, und damit beginnt die Heimlichtuerei in der Westberliner Nachkriegszeit. Das NS-Sonderstrafrecht gegen Homosexuelle wurde 1949 von der Bundesrepublik übernommen. Homosexualität war ein Verbrechen.

Im Kleistcasino am Nollendorfplatz bei „Mama und Paul“ verkehrte Grund gern. „Ich hatte ziemlich große Chancen.“ Im Lokal hing ein Schild: „Nicht eng tanzen. Nicht küssen“. Grund hat die Razzien erlebt, wenn Polizei die Lokale umstellte und alle Gäste auf Lastwagen zur erkennungsdienstlichen Behandlung karrte. Und er weiß um die Bespitzelungen. Auch sein Name wurde einmal bei einem Stricher gefunden. „Weil der mich bei der Gegenüberstellung nicht kannte, wurde das Verfahren zum Glück eingestellt.“

Grund war Mitglied in der Gesellschaft für Reform des Sexualrechts e. V. Der Verein löste sich 1960 jedoch auf, weil es nicht gelang, die Gesetzgebung zu verändern. Erst 1969, im Zuge des 68er-Aufbruchs, kam es zur Liberalisierung des Paragraphen 175.

Im Nachhinein aus Grund einen Aktivisten der Homosexuellenbewegung zu machen, das trifft es allerdings nicht. Eigentlich war jeder Schwule in der Bundesrepublik einer. Schließlich handelten sie alle gegen das Gesetz. Daneben aber wollten sie doch ihr Leben leben. Grund träumte davon, Künstler zu sein. Seine Mutter verstand es jedoch, einen Feinmechaniker aus ihm zu machen. Heimlich nahm er dennoch Tanzunterricht an Mary Wigmans Schule. „Ich schaffte es zum Komparsen an der Oper“, sagt er. Ein Highlight: „Ich stand hinter der Bühne, als Maria Callas in Berlin sang.“ Später dann wurde er Reiseleiter.

Grund ist stolz auf all die Facetten seines Lebens. Manchmal bittet er seinen Freund, ein Album zu holen, um Lücken in der Erinnerung zu kitten. Dann wird nachgeschaut, ob er auch wirklich der Pilger in „Tannhäuser“ und der Grande in „Don Carlos“ war. Und wenn er nicht weiterkommt, dann fällt ihm etwas im Zimmer ins Auge, und ein neuer Gesprächsfaden entspinnt sich. Das Kreuz und der Leidensweg über der Lampe aus Marokko etwa. „Ich bin religiös, aber nach meiner Fasson“, sagt er.

Die Ostberlinerin

Das hätte sich Rita T., die Thomy genannt werden will, nicht träumen lassen, dass sie am Ende Zeitzeugin einer untergegangenen Epoche ist. „War eben die DDR“, sagt die 72-Jährige. Derentwegen sitzt die quirlige Frau nun beim Griechen am Bersarinplatz in Friedrichshain und erzählt „Episoden vom anderen Ufer“.

Thomy ist lesbisch. War es immer. Sie will auch nichts anderes sein. „Nur dass wir uns damals schwul nannten. Lesbe hat keine gesagt.“ Damals in Ostberlin. Weil sie dort lebte, sind ihre Erinnerungen und Einsichten heute gefragt.

Ganz normale Einsichten übrigens sind es. Sie fangen mit dem Krieg an. Neun war Thomy, als die Deutschen Polen angriffen, 14, als sie kapitulierten. „In Weißensee lebten wir“, erzählt sie. Weil sie sehr klein war, ging sie 1945 als Kind durch. Zu denen sollen die Russen nett gewesen sein. „Ich war auch Trümmerfrau. Und ich war im Knast. 13 Monate.“ Man hatte sie mit Pistole erwischt. Das war den Deutschen nach dem Krieg verboten.

Im Nachhinein gerät Thomy die Chronologie durcheinander. Wichtig ist ihr nur noch, dass das Ende des Krieges zusammenfällt mit dem Beginn ihrer Vernarrtheit in Hunde. Das kam, weil sie keine richtigen Schuhe hatte, erzählt sie. Ein russischer Kommandant habe ihr Geld gegeben für ein paar neue. Sie kaufte sich stattdessen einen Hund. „Davor hatte ich Ratten und Katzen.“ Ratten als Haustiere unter Hitler? „Kein Problem“, antwortet sie. Sie hat sie dressiert und sich so mit den Bombennächten arrangiert. Sie holt ein Foto aus ihrem Rucksack, auf dem eine Ratte auf einer Katze posiert.

Heute sind Hunde der eine Pfeiler in ihrem Leben. „Ich bin Hundefriseurin.“ Der andere: „Das mit den Frauen.“ Ihr Weg zu ihnen erinnert an den Werdegang von Bilderbuchlesben: Thomy der Tomboy, das wilde Mädchen. Niemand hat’s gestört, war ja Krieg. „Ick war die Kleenste und Frechste“, berlinert sie. Motorrad wollte sie auch fahren. Ihr Vater war Fahrlehrer für die Nazis. Er hat es ihr aber nicht beigebracht. Eine Schweißerei hatte der Vater zudem. „Zwangsarbeiter haben bei uns gearbeitet. Ich hab die Lager gesehen, wo sie wohnten. Unsere Mutter hat immer warme Sachen für sie aufgetrieben.“ Warum die Zwangsarbeiter da waren, war ihr als Kind nicht klar.

Auf jeden Fall hat sie später den Motorradführerschein und den für Lastwagen gemacht. Sie hatte eine 350er Jawa, ein tschechisches Modell. Mit zwei Hunden und ihrer Freundin im Beiwagen ist sie an die Ostsee gefahren. Solche Episoden sind es, die die endlich unbeschwerte Zeit heraufbeschwören.

Anders als in den Westzonen hatten die Homosexuellen in der russischen Zone vergleichsweise wenig Ärger, solange sie sich nicht politisch betätigten. Nur Charlotte von Mahlsdorf, die später als Gründerin des Gründerzeitmuseums bekannt wurde, soll es nicht leicht gehabt haben, meint Thomy. „Aber wenn Tunten im Rock spazieren jingen, da hat die Polizei zwar gekiekt, aber einjegriffen ham se nich.“

Thomy lebte gerne in Ostberlin. Genauer: in Friedrichshain unweit des alten Schlachthofs und seiner Backsteingebäude, die an Gutshäuser erinnern. Als sie 1953 hier ankam, wurde das Vieh noch die Straßen hochgetrieben, erzählt sie. In manchen Hinterhöfen soll es Kühe gegeben haben. „Deshalb hatten wir immer frisches Fleisch, frische Wurst.“ Die Nahrungsmittellage ist wiederkehrendes Thema in der Erinnerung der Berliner.

Mitunter zeigt sich an der Nahrungsfrage gar die Charakterfestigkeit. Selbstverständlich habe Thomy für die Westberliner Freundinnen die billigeren Waren im Osten besorgt. Aber sie hat nicht verstanden, dass die aus dem Westen sich geizig gaben, wenn die aus dem Osten nach drüben in die Bars kamen. Vor dem Mauerbau ging das noch. „War ja teuer für uns.“ Die Bars waren das einzige, was Thommy „nach drüben“ zog. Wenn es „zu Kathi“ oder „in die Adalbert 21“ ging.

Nach dem Mauerbau entwickelt sich in Ostberlin eine eigene homosexuelle Szene. Thomy war gern im „Peking-Café“ in der Schönhauser Allee. „Wir ham das besetzt“, sagt sie. „Wir waren alle da und andere sind nicht mehr rinjekommen.“ Thomy war mittendrin. „Ich war kein Kind von Traurigkeit.“ Und weil die Leute immer mal jemand Neues mitbrachten, soll es nie langweilig geworden sein. Bei Frauen hat Thomy sowieso von Weitem gesehen, ob sie „zur Fachschaft“ gehörten. „Ich hab gekriegt, was ich wollte“, sagt sie.

Hat sie das mit den Frauen je bereut? „Nie.“ Und Kinder? Eigene wollte sie nicht. Ohnehin hatte sie immer welche um sich, von Geschwistern, von Freundinnen. Sie mag sie lieber, wenn sie größer sind. „Wenn man mit ihnen schlendern kann“, meint sie. Sie „schlendert“ gerne, geht in Kaufhäuser, um sich schöne Dinge anzuschauen. „Jar nich koofen“. Bis auf Rucksäcke. Da kann sie nicht nein sagen. Alte Gewohnheit. „Wissen Sie, ich kann doch nichts wegschmeißen“, gesteht sie. Überhaupt, schon das Wort „wegschmeißen“ ist für ihre Ohren ein Gräuel. Sie sammelt alles. Deshalb lässt sie Fremde auch nicht in ihre Wohnung.

Und die Liebe? Nun ja, Thomy hat Helli. „Kollegin“, nennt sie sie. Seit fast 50 Jahren ist sie mit ihr zusammen. „Was man so zusammen nennt.“ Zusammen. Auseinander. Zusammen. „Da hat sie mal eine kennen gelernt, dann ich.“ Wie auf Zuruf spaziert die Kollegin am Fenster der Kneipe vorbei. „Da ist sie ja, die Helli.“ Thomy springt auf, freut sich, redet mit der Kollegin durchs geschlossene Fenster. Ganz aufgeregt ist sie. Ganz jung.