: Das Arsenal unserer Vokabeln
DAS SCHLAGLOCH von KLAUS KREIMEIER
„Es ist unglaublich wenig, was ein solches definierendes Wort leistet.“ Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), Aphorismen
Ein erstaunliches Phänomen: Wir verfügen über ein täglich wachsendes Repertoire an Fachbegriffen, die uns befähigen, die Wirklichkeit und den Wandel in der Welt immer präziser zu beschreiben. Gleichzeitig aber scheinen die Widersprüche, mit denen wir es im globalen Maßstab wie im lebensweltlichen Kontext unseres Alltags zu tun haben, immer weniger „beherrschbar“. Das reicht von den Schreckensszenarien des aktuellen Terrorismus bis zu den verzweifelten Bemühungen unserer Regierungen, der Altersstruktur in den modernen Gesellschaften gerecht zu werden, ohne soziale Perspektivlosigkeit zu produzieren.
Das Begriffsnetz, an dem die zuständigen Fachwissenschaften, Kommissionen und Verwaltungseinrichtungen arbeiten, wird von Tag zu Tag dichter. Unsere Sprache wird dabei ästhetisch nicht gerade reicher, aber immerhin etwas genauer; sie stattet unsere Kommunikation mit begrifflichen Feinrasterungen aus. Nichtsdestoweniger gewinnt unser Blick für das Gewebe der Fakten nicht an Schärfe, geschweige denn, dass die Handlungen der Politik sich durch größere Effizienz auszeichneten. Man könnte also sagen: Im Bereich des Verbalen sind wir Spitze; wenn es zu agieren gilt, befallen uns Rhythmusstörungen mit denkbar fatalen Konsequenzen. Es wäre herauszufinden, ob es sich dabei um einen anthropologischen Defekt handelt – oder um ein Problem des Übergangs in ein neues Zeitalter, von dem nur eines gewiss scheint: dass seine Risiken überwiegen.
Etliche der neu erfundenen Begriffe machen eine schnelle Karriere, werden im politischen Meinungskampf aufpoliert, wandern mit exponentiell wachsender Geschwindigkeit durch die Talkshows und sind damit etabliert. Bis ihr Verfallsdatum gekommen ist, das heißt neue sprachliche Justierungen notwendig geworden sind, weil die Begriffe an Bezeichnungsschärfe eingebüßt haben. Denn nicht nur die Veränderungen in der Welt, sondern auch pure Abnutzung und medialer Verschleiß überantworten unsere Orientierungsmuster, die ja allesamt Realität allein dank der Sprache sind, einer rasanten Vergänglichkeit. Um zwei Beispiele zu nennen: Wir wissen, dass wir uns gegenwärtig am „demografischen Faktor“ abarbeiten – und wir ahnen, dass wir in einer Epoche „asymmetrischer Kriege“ leben. Zwei prominente Begriffe, die eine bemerkenswerte Karriere durchlaufen haben – und denen vermutlich eine baldige Entsorgung bevorsteht.
Am Beispiel des „asymmetrischen Krieges“ lassen sich besonders gut die Stärken und Schwächen sprachlicher Signifikanten zeigen, die realer Not entspringen – und dank Herfried Münkler eine vermeintlich neue, prekäre Sachlage blitzartig ins Licht der Erkenntnis heben. Seinen kometenhaften Aufstieg erfuhr der Begriff nach dem 11. September, als die Welt im Angesicht einer durch einen einzigen Terrorschlag tief verwundeten Weltmacht buchstäblich nach Worten rang. Plötzlich verfügte man über eine Formel, die überzeugend das Neue der Situation auf den Nenner brachte, zugleich theorietauglich war und im Bereich des politischen Handelns nach einer angemessenen Strategie rief. Die Unheimlichkeit des Geschehenen war nicht heimlicher geworden, aber etliche Kommentatoren vermittelten den Eindruck, dass sie kraft sprachlicher Prägnanz besser auszuhalten und vielleicht zu besiegen sei.
Dabei wurde übersehen, dass asymmetrische Kriege nichts Neues sind. Jeder Krieg, den eine Guerilla mit den ihr eigenen subversiven Methoden gegen die aufgeblähte Militärmaschinerie eines Okkupanten führt, hat – im Verhältnis zu Kriegen zwischen Nationalstaaten, die ihre Heere „symmetrisch“ aufeinander losmarschieren lassen – eine asymmetrische Struktur. Im Zeitalter Napoleons waren Guerillabewegungen noch begrenzt kontrollierbar, und auch die äußerst brutalen Unterdrückungskriege der Kolonialära gingen sozusagen anstandslos über die Bühne, ihre Asymmetrie wurde als solche nicht thematisiert. Global wahrgenommen wurde erstmals der Aufstand des Boxer-Geheimbundes in China um 1900 – aber nur, weil alle europäischen Großmächte an seiner Niederwerfung beteiligt waren: Asymmetrie par excellence.
Seit dem Vietnamkrieg hat sich die Kontrollierbarkeit von Guerillabewegungen objektiv verringert (die Gründe dafür hätten Militärhistoriker zu untersuchen). Wichtiger noch: Die Verletzlichkeit eines übermächtig gerüsteten Aggressors wurde erstmals via Fernsehen vor der Weltöffentlichkeit aufgedeckt. Der Helikopter, mit dem die letzten Amerikaner vom Dach ihrer Botschaft flüchteten, bevor der Vietcong Saigon zurückeroberte, wurde zum eindrucksvollen Bildzeichen eines asymmetrischen Krieges, in dessen Verlauf der technologisch und logistisch Stärkere das Nachsehen behalten hatte. In Somalia wiederholte sich das Debakel, und in Afghanistan und im Irak zeichnet sich gegenwärtig dasselbe Muster ab, ohne dass festzustellen wäre, dass die Okkupationsmacht aus ihren reichen Erfahrungen strategische Schlüsse ziehen würde. Noch Ende Oktober warb die Denkfabrik „New American Century“ für eine militärisch forcierte „Counter-Insurgency“-Strategie im Irak.
Mit den Selbstmordanschlägen, die heute potenziell jeden beliebigen Punkt der Welt zum Schlachtfeld machen, verändert sich das Bild grundlegend. Die Asymmetrie schießt ins Extrem und über sich selbst hinaus. Wenn lokales Geschehen – auf eine Straßenecke, ein Gebäude konzentriert – globale Sichtbarkeit und Bedeutung beansprucht, existieren überhaupt keine Symmetrien mehr. Gleichzeitig verliert der Begriff, der uns die Verhältnisse erklären soll, an Definitionsmacht. Merkwürdige Ungleichzeitigkeit: Nach Worten ringend, halten wir am altmodischen Kriegsbegriff fest – und „modernisieren“ ihn mit Hilfe einer Vokabel, die weniger Heutiges als Historisches beschreibt. Unser Spracharsenal erweist sich als Archiv: Wir verfügen über ein Wort, das uns nicht die Gegenwart, sondern nur die Geschichte genauer erklärt. Die Disproportionen früherer Kriege werden beschreibbar, während wir für die grauenvollen Szenarien, die lebende Bomben und in Hochhäuser gelenkte Jumbo-Jets hinterlassen, begrifflich noch nicht gerüstet sind.
Vor allem: Gerufen wird wieder einmal nach einer neuen Kriegsstrategie. Andere, grundlegende Asymmetrien der modernen Welt – etwa die zwischen Unterentwicklung und Globalisierung – werden Attac und den Talkshows überlassen. Die Asymmetrie zwischen der westlich-demokratischen und der terroristischen Zeitökonomie hat kürzlich Herfried Münkler angesprochen. Sie scheint unaufhebbar, weil Terrorbekämpfer wie Bush notorisch keine Zeit haben – sie wollen wiedergewählt werden. Sie brauchen schnelle Erfolge – und die Opposition hofft auf ihr schnelles Scheitern. Wenn alles schnell gehen muss, bleibt für politisches Denken und Handeln kein Atem. Die Terroristen hingegen verfügen über „alle Zeit der Welt“. Wie gesagt: Auch zwischen unserer Einsicht und unserer Fähigkeit, aus ihr Konsequenzen zu ziehen, herrscht Asymmetrie.
Fotohinweis: Klaus Kreimeier ist Publizist und Medienwissenschaftler in Siegen