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Archiv-Artikel

Uruguay greift zur Selbsthilfe

Nachdem der Investor aufgegeben hat, übernehmen Arbeiter in Montevideo ihr Werk. Sie wollen in Eigenregie produzieren. Mit selbst verwalteter Ökonomie versucht die uruguayische Bevölkerung, die Krise zu lindern. Bundespräsident Rau zu Besuch

aus Montevideo DONATA DRÖGE

Von außen sieht die Reifenfabrik Funsa am Stadtrand der uruguayischen Hauptstadt Montevideo aus wie eine der vielen anderen Industrieruinen. Drinnen aber wird geschweißt und gehämmert – 100 Arbeiter werkeln an den riesigen Vulkanisierungsmaschinen herum. Monatelang sind sie nicht gewartet worden.

Vor einem Jahr hat der Hauptinvestor, eine US-Firma, den Betrieb dichtgemacht. Die Gewerkschafter haben vor der verlassenen Anlage kampiert, bis sie Zugang zu den Hallen bekamen. Die Belegschaft – rund 400 Arbeiter – will beweisen, dass die Fabrik sehr wohl rentabel ist. „Wir haben jahrzehntelang Reifen und Gummiwaren in Uruguay und Brasilien verkauft, unsere Kunden haben uns zugesagt, dass sie sofort wieder bestellen, sobald wir anfangen“, sagt der bärtige Gewerkschaftsführer Luis Romero. Derzeit verhandeln die Arbeiter mit der Staatsbank über die Schuldentilgung und suchen einen neuen Investor. Es gebe mehrere einheimische Interessenten, sagen sie. Spätestens Ende des Jahres soll die Produktion wieder anlaufen.

Funsa wäre dann die erste große Fabrik in Uruguay, die von den Mitarbeitern am Leben gehalten wird. Mehrere kleinere Betriebe laufen schon länger in Eigenregie. Ebenso wie in den besetzten Fabriken in Argentinien zeigen die Arbeiter damit, dass sie es nicht einfach hinnehmen, wenn Unternehmer sich aus dem Staub machen.

Unter anderem über die ökonomische Situation informiert sich heute Bundespräsident Johannes Rau. Auf seiner Südamerika-Reise macht er Station in Montevideo. In Uruguay sitzt das Misstrauen gegen den Kapitalismus tief. 1992 hat die Bevölkerung per Referendum ein Privatisierungsgesetz gestoppt. Nun steht eine weitere Volksabstimmung bevor: Die Gewerkschaften und Teile des Linksbündnisses Frente Amplio wollen ein Gesetz kippen, das die Beteiligung eines ausländischen Investors an der staatlichen Ölfirma Ancap erlaubt. Slogans wie „Stoppt den Ausverkauf!“ und „Für ein produktives Uruguay“ sind überall zu lesen. Den Umfragen nach hat das Referendum gute Aussichten auf Erfolg. Es gilt als Stimmungstest für die Wahlen im kommenden Jahr, bei denen die Linken einen Regierungswechsel zu ihren Gunsten erreichen wollen.

Der Argentinien-Crash ist für viele Uruguayer eine Bestätigung ihrer Kritik am Neoliberalismus. Was kaum ein Trost ist, denn die Krise hat das kleine Nachbarland mit ähnlicher Wucht getroffen. Im vergangenen Jahr machten in Uruguay vier Banken dicht, die Währung verlor um 90 Prozent an Wert gegenüber dem Dollar, die Wirtschaft schrumpft seit Jahren, allein 2002 um mehr als zehn Prozent. Mindestens ein Fünftel der Uruguayer hat keine Arbeit.

Ähnlich wie in Argentinien versuchen die Menschen in Uruguay, sich selber zu helfen. Sie betreiben Volksküchen, Tauschhandel und bilden Produktionsgenossenschaften. Einige dieser Selbsthilfeansätze sind neu, andere haben eine lange Tradition. Zum Beispiel die Wohnungsbaukooperativen, die seit mehr als dreißig Jahren eine große Rolle im sozialen Wohnungsbau spielen. Das Konzept, gemeinsam mit anderen einen Kredit aufzunehmen und einen Teil der Zinsen mit eigener Arbeitsleistung zu begleichen, ist angesichts der knappen Einkommen attraktiv.

Früher wurden solche Initiativen aus öffentlichen Quellen finanziert, die heute zu versiegen drohen. Angesichts dessen hat die Universität der Republik gemeinsam mit dem Goethe-Institut Montevideo ein Kolloquium mit Experten aus Deutschland und Lateinamerika zu solidarischen Finanzierungssystemen veranstaltet. Beispiele waren unter anderem Mikrokredit-Systeme in anderen lateinamerikanischen Ländern oder Asien – Regionen, in denen die Armutsbekämpfung schon lange ein Thema ist. Anders als in Uruguay, das formal nicht als Entwicklungsland gilt und entsprechend bisher auch kaum Zugang zu ausländischen Hilfen hat. Das könnte sich ändern, wenn die Einkommen weiter sinken.

Darauf wollen die Arbeiter der Fabrik Funsa nicht warten. „Wir sind daran gewöhnt, die Schuld auf den Unternehmer oder auf den Staat zu schieben“, sagt Gewerkschaftsführer Romero. „Hier ist aber kein Unternehmer und kein Staat. Nur wir. Wir haben die Verantwortung“.