: Wo und wann man etwas sagt
In Israel ist Adorno kaum bekannt. Eine Tagung in Tel Aviv machte sich jetzt daran, dies zu ändern. Im Vordergrund stand dabei nicht die Heimholung ins Jüdische, sondern die Figur des politisch eingreifenden Intellektuellen
Nach fast einem Jahr voller Anekdoten über Adornos Tierliebe und Frauengeschichten sowie etlicher Konferenzen, auf denen die einschlägigen boygroups zahlreiche Aspekte seines Werks ausleuchteten, mag man es kaum glauben: In Israel ist Adorno weitgehend unbekannt. Im Unterschied zu anderen kritischen Theoretikern wie Herbert Marcuse, Max Horkheimer oder Walter Benjamin. Warum das so ist, erläuterte der Direktor des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv, Moshe Zuckermann, in seinem Eröffnungsvortrag zur ersten Adorno-Konferenz in Israel. „Sich zu Tode adornieren“, sei im Frankfurt der Sechzigerjahre ein quasi geflügelter Vorwurf gewesen. Und so setze die Theoriesprache Adornos einer Übertragung ins Hebräische enorme Schwierigkeiten entgegen. Aus diesem Grund ist keine seiner Schriften vollständig übersetzt – nur bei Teilen der „Dialektik der Aufklärung“, der „Einleitung in die Musiksoziologie“ und der Studie über den autoritären Charakter wurde dies gewagt.
Motiviert wurde die Tagung in Tel Aviv darum zweifach: zum einen durch den Ärger über die unpolitischen Adorno-Feiern bei uns, zum anderen sollte Adorno als kritischer Intellektueller bekannt gemacht werden. Dazu trafen sich in der vergangenen Woche auf Einladung von Moshe Zuckermann und der Heinrich-Böll-Stiftung Tel Aviv deutsche und israelische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, um mit einer breiten Zuhörerschaft über den „Philosophen des beschädigten Lebens“ zu debattieren. Die Vortragsveranstaltungen wurden ergänzt durch die Vorführung der 2003 fertig gestellten Filmdokumentation über Leben und Werk Adornos und ein Konzert des Freiburger „Trio Recherche“ mit Stücken von Adorno, Schönberg und Schnabel.
Die ins Hebräische übersetzten Texte Adornos unterstreichen, welchem Adorno das bisherige Interesse in Israel galt: dem kritischen Aufklärer, der versuchte, den Antisemitismus und die Schoah begrifflich und historisch zu erklären. Dieses Bild galt es zu ergänzen. Intendiert war aber keine Heimholung der Philosophie Adornos ins Jüdische, wie es beispielsweise Scholem mit Benjamin versuchte. Die Figur des politisch eingreifenden Intellektuellen, die für Israel eher ungewöhnliche Verbindung von Wissenschaft und Politik oder gar von Kunst und deren praktischer Wirkungskraft standen im Vordergrund.
Dass die Besonderheit der israelischen Situation nicht außer Acht gelassen werden konnte und dass Politik und Geschichte jede Aussage mit einer eigenen Bedeutung versehen, machen die umfangreichen Sicherheitsvorkehrungen deutlich; vor dem Hörsaal hängen Porträts der bei Anschlägen getöteten Studenten. Harmlos wollte Adorno nie sein, harmlos klingt in diesem Kontext keine seiner Thesen. Viele vertraute Überlegungen und Formulierungen Adornos versteht man auf einmal ganz neu. Und begreift: Adorno in Israel – das ist etwas, das mit dem inneren Gehalt seines Denkens zu tun hat. Schon das Publikum setzt sich anders zusammen als gewohnt: Die eine Hälfte besteht aus älteren Menschen, die andere Hälfte aus sehr jungen Studentinnen und Studenten. Und obwohl die Tagung auf Englisch abgehalten wird, ist eines schnell klar: Alle können Deutsch. Und was für ein Deutsch: Ein alter Herr berlinert, dass man sofort Döblins Franz Biberkopf im Ohr und den Alexanderplatz der 30er-Jahre vor Augen hat. Auf Nachfrage erzählt er: Schuhjeschäft am Schlesischen Tor, inne Scherbennacht hat der Kopp noch uffjepasst, aber 39 mussten wa dann nach Argentinien. Er kennt alles, fragt, ob die Berliner den S-Bahn-Ring immer noch „Hundekopp“ nennen – was Stadtplaner noch tun. Oder eine der Referentinnen: Sie hat deutsche Vorfahren, kann Deutsch lesen und verstehen, aber sprechen – nein, das geht leider nicht. Trotz eines mehrmonatigen Sprachkurses in Berlin, trotz der Begeisterung für das Leben in Berlin: Die Worte kommen ihr nicht über die Lippen.
Der Vortrag von Stefana Sabin (Frankfurt am Main) über einen Satz aus „Minima Moralia“ – „Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen“ – und die Idee, dass die eigenen Gedanken das Heim möblieren, gewinnt so Aktualität. An die „Fremdwörter als die Juden der Sprache“ (Adorno) und die Rettung des Einzelnen durch Sprache knüpfen auf unterschiedliche Weise auch Yossef Schwartz (Tel Aviv) und Ilan Gur-Ze'ev (Haifa) an. Den „diasporic way of life“ empfiehlt Letzterer als Weg zur Rettung von Transzendenz, als angemessene Reaktion auf die Abwesenheit eines Absoluten in der Geschichte.
Mehr Aufregung verursachten die Thesen des Adorno-Biografen Detlev Claussen (Hannover): Ohne das Vorbild der amerikanischen Demokratie sei Adorno nicht möglich, behauptet er. In den USA habe Adorno eine aufgeklärte Gesellschaft und eine substanzielle Form der Demokratie kennen gelernt, die ihm zum Abschied vom revolutionären Linksradikalismus verholfen habe.
Jede Biografie ist auch die Geschichte des Biografen. Und so kam es am Ende noch zum Eklat: Waren die USA Adornos Vorbild für eine demokratische Gesellschaft? Ist Amerika als nation of nations die Zukunft Europas? Gegen Claussens Adorno setzt Zuckermann den seinen: Das innere Bedürfnis, sich nicht zu befreien, sei das fatale Ergebnis der Kulturindustrie, Befreiung aber bitter nötig – damals wie heute. Wahrheit hat einen Zeitkern, meint Adorno, wo und wann man etwas sagt, ist entscheidend für die Wahrheit selbst. Und so bleibt am Ende des Streits der Wunsch: wieder eine Adorno-Konferenz in Israel. Über die lösende Kraft von Musik. Am besten gleich nächstes Jahr in Jerusalem. BRITTA SCHOLZE