Schulkinder sollen rückwärts laufen können

Um über die gesundheitliche Lage von Schulkindern zu diskutieren, trafen sich gestern und heute 300 ExpertInnen auf einem Kongress in Dortmund. Bildungsverband VBE fordert gesündere Bedingungen für das Lehrpersonal

Dortmund taz ■ Schüler können nicht mehr balancieren, leiden vermehrt unter Essstörungen und greifen immer früher zu Zigaretten und anderen Drogen. Eine „gute und gesunde Schule“ ist das Ziel eines gleichnamigen Kongresses der nordrhein-westfälischen Träger der gesetzlichen Schülerunfallversicherung in Zusammenarbeit mit Schul- und Sportministerium, der bis heute in Dortmund stattfindet.

350.000 Schulunfälle werden bei den Unfallversicherungsträgern in NRW jährlich gemeldet. Wieviele davon durch Mobbing und Aggression unter den Schülern verursacht werden, können die Unfallkassen schlecht einschätzen. „Bei uns wird nur gemeldet, dass jemand hingefallen ist, nicht ob ihn jemand geschubst hat“, sagt Jürgen Schäper vom Gemeindeunfallversicherungsverband Westfalen-Lippe. „Die Schuldirektoren vertuschen Agressionen an ihrer Einrichtung gerne“, sagt er.

Doch auf dem Kongress geht es nicht nur um Sicherheitsförderung, sondern um allgemeine gesundheitliche Aspekte. „Computer und Fernsehen haben sich stark auf die Sinne ausgewirkt“, sagt Lothar Szych, Koordinator der Unfallkassen in NRW bei einer Pressekonferenz. Seh- und Hörsinn seien stark ausgeprägt, „aber die Schüler können nicht mehr rückwärts gehen und sie können auch nicht mehr balancieren“, sagt Szych. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen wirkten sich solche Unfähigkeiten auch auf die Lernleistung aus. „Wer eine bessere Qualität der Schulen fordert, muss auch die Gesundheit in den Schulen fördern.“ Er fordert die Aufnahme der Gesundheitsförderung ins neue Schulgesetz.

Davon will Schulministerin Ute Schäfer (SPD) nichts wissen. „Nur weil etwas im Gesetz steht, bewegt sich noch lange nichts“, sagt sie. Mittlerweile liefen bereits an fast jeder Schule Maßnahmen zur Gesundheitsförderung. Schäfer sieht vor allem die neuen Ganztagsgrundschulen als Brutstätte für gesunde Schüler. „Wir können mit unseren Angeboten verhindern, dass Kinder nicht schon mittags Pommes essen und vorm Fernseher sitzen.“ Allgemein dürfe sich Gesundheitsförderung nicht auf die Sportstunde beschränken, sondern müsse integriert sein. Dafür gebe es bereits gute Beispiele: Seit 2000 läuft an 450 Schulen im Land das Pilotprojekt „OPUS“, das den Unterricht durch gesundheitsfördernde Maßnahmen unterstützen soll. Dafür stellt das Ministerium eine Million Euro jährlich zur Verfügung. 80 BeraterInnen sind ausgebildet worden, um bei der Umsetzung zu helfen. Der Mehraufwand einer Schule wurde jedoch kaum belohnt. Insgesamt hat das Ministerium nur 15 neue Lehrkräfte für das OPUS-Projekt eingestellt.

Udo Beckmann, Landesvorsitzender beim Verband für Bildung und Erziehung, hält zwar viel von Gesundheitsförderung, macht sich aber vor allem um den Zustand der LehrerInnen Sorgen: „Die Schule sollen immer das schaffen, was die Gesellschaft selbst nicht hinkriegt“, kritisiert er. Für ihn müssten vor allem die LehrerInnen entlastet werden, damit es auch mit der Gesundheitsförderung bei den Schülern klappt. Und die Lehrer sind stark gefährdet: Nach einer vom VBE initiierten Studie sind ein Drittel von ihnen vom „Burn-Out“-Syndrom bedroht.

Ministerin Schäfer hofft darauf, dass sich die Gesundheitsförderung auch positiv auf die Gesundheit der LehrerInnen auswirkt. In diesem Schuljahr wurde das OPUS-Projekt auf Kindertagesstätten ausgeweitet. Gleichzeitig ist in Zusammenarbeit mit dem Sportministerium an 25 Grundschulen das Projekt „Die tägliche Sportstunde“ angelaufen. NATALIE WIESMANN