: Zwischen Nostalgie und Politikfrust
15 Jahre nach der Revolution in Tschechien sehnt sich ein Fünftel der Bevölkerung nach dem Kommunismus
PRAG taz ■ Fünfzehn Jahre nach der „Samtenen Revolution“ herrscht in Tschechien Nostalgie. Laut einer Umfrage der Tageszeitung Mlada Fronta Dnes wünschen sich ein Fünftel der Tschechen das kommunistische Regime zurück. Arbeit für alle, niedrige Preise, soziale Sicherheit und kaum Kriminalität sind für sie die positiven Seiten des Totalitarismus, für die sie auch ein Stück Freiheit aufgeben würden.
Heute vor genau fünfzehn Jahren wurde diese Freiheit errungen. Eine Studentendemonstration am 17. November 1989 wurde zur Revolution. Die vom Regime genehmigte Demonstration anlässlich des 60. Jahrestages einer antifaschistischen Studentenrevolte geriet außer Kontrolle. Tags darauf hieß es, bei dem brutalen Polizeieinsatz im Prager Stadtzentrum sei der Student Martin Smid getötet worden. Die Nachricht erwies sich zwar bald als Ente und Martin Smid als putzmunter. Sie reichte aber, um das Volk gegen seine Herscher aufzubringen.
Es wurde gestreikt an Universitäten und Theatern. Zehntausende demonstrierten in den Tagen nach dem 17. November auf dem Prager Wenzelsplatz, schüttelten ihre Schlüssel, um dem Regime zu sagen, es sei Zeit, nach Hause zu gehen. „Ich schlage vor, Armee, Polizei und Volksmiliz in Kampfbereitschaft zu versetzen“, forderte der damalige Chef der Armee, Milan Vaclavik, noch am 24. November 1989.
Mit seiner Meinung blieb er in der Minderheit, es floss kein Blut, die Revolution wurde zur samtenen. Man könnte sie aber auch überstürzt nennen. „Ich erinnere mich, wie mein Vater damals sagte, dass die Revolution früher begann, als eigentlich geplant“, sagt Marek Benda, Sohn des verstorbenen Sprechers der Charta 77, Václav Benda. Die Dissidenten um Benda, Václav Havel oder Petr Uhl hatten ihre Revolution für den 10. Dezember 1989 angesetzt. Anlässlich des Tages der Menschenrechte hatten sie eine Demonstration am Prager Moldauufer geplant.
Doch dann nahm ihnen der Lauf der Geschichte die Zügel aus der Hand. Anstelle eines kleinen Grüppchens intellektueller Regimegegner gingen am 10. November zehntausende auf die Straße. Studenten, Hausfrauen, Arbeiter und Bauern. Am gleichen Tag erklärte der tschechoslowakische Präsident Gustav Husak seinen Rücktritt. Das Regime hatte auch den Rest seiner Legitimation im Volk verloren. Um es herum war der Warschauer Pakt dabei zusammenzubrechen. Hilfe aus Moskau, Warschau oder Berlin, die 21 Jahre zuvor eine Kursänderung verhindert hatten, war nicht zu erwarten.
Am 29. Dezember 1989 wurde Václav Havel zum Präsidenten gewählt. Das Symbol des antikommunistischen Widerstands in der Tschechoslowakei wurde selbst Oberhaupt des Staates.
Fünfzehn Jahre später sind mit Tschechien und der Slowakei beide Nachfolgestaaten der Tschechoslowakei Mitglieder der Europäischen Union. Auf der Prager Burg, dem Präsidentensitz, herrscht Václav Klaus, Star der postrevolutionären Politszene. Unten auf der Prager Kleinseite, im Parlament, regiert eine Truppe technokratischer Grünschnäbel um den 35-jährigen Premier Stanislav Gross.
Das Volk ergeht sich in Nostalgie und Politikmüdigkeit. Die spiegelt sich in niedrigen Wahlbeteiligungen wider. Gerade mal 18,4 Prozent der Wähler bemühten sich während der Senatswahlen am vergangenen Wochenende an die Urnen. Ein trauriger Rekord, aber kein Einzelfall. In der ersten Runde der Senatswahlen gaben 29,4 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, ähnlich niedrig war die Beteiligung bei den Wahlen zum Europaparlament im Juni dieses Jahres.
Auf eine disziplinierte Wählerschaft verlassen können sich hingegen die Kommunisten. Die Partei, die stolz ist, sich nach der Samtenen Revolution nicht reformiert zu haben, liegt in den Präferenzen bei zwischen 15 und 20 Prozent. ULRIKE BRAUN