Nur im Rückblick ein Leben

Christoph Peters hat mit seinem Roman „Das Tuch aus Nacht“ das Gegenteil eines Entwicklungsromans geschrieben: eine Auslöschung. Dabei überzeugt er mit seinem unbedingten Willen zur Konstruktion und zur totalen Kontrolle, doch wirklich zu fesseln oder gar zu berühren vermag sein Roman wenig

Christoph Peters ist ein perfekter Techniker, der in seinem Roman nichts dem Zufall überlässt

VON JÖRG MAGENAU

Die literarische Laufbahn von Christoph Peters begann in Kalkar am Niederrhein. Dort, wo er 1966 geboren wurde, war auch sein erster, gefeierter Roman „Stadt Land Fluß“ angesiedelt. In dem Erzählungsband „Kommen und gehen, manchmal bleiben“, schickte er seine Figuren dann hinaus in die Welt: nach Ghana, Ägypten, Israel oder auch nur nach Berlin. In der Provinz und in Deutschland war es ihm zu eng geworden. Sein neuer Roman „Das Tuch aus Nacht“ spielt im herbstlich kühlen Istanbul. Doch die Bewegung verläuft nun rückwärts und führt zurück in die deutsche Provinz und tief in die eigene Herkunft. Die Geheimnisse der fremden Stadt, ihre Abgründe und Rätsel bleiben ungelöst und unverstanden. Die Welt verschließt sich wieder.

Am Anfang geschieht ein Mord. Albin Kranz, ein gescheiterter Steinbildhauer, beobachtet vom Dachgarten seines Hotels, wie gegenüber ein Mann erschossen wird, wie er über seinem Teller zusammensackt, mit dem Kopf die Glasplatte des Tisches zerschlägt, wie Blut auf den Teppich tropft. Doch so präzise die Bilder, so konkret der erlebte Augenblick, schon Minuten später ist nichts mehr klar. Albins Freundin, die Fotografin Livia, glaubt ihm kein Wort. Ihre gemeinsame Reise nach Istanbul ist ein letzter, vergeblicher Versuch, ihre Beziehung zu retten. Albin ist ein Trinker im Endstadium, dessen einziges Interesse darin besteht, sich von früh bis spät mit Alkohol zuzuschütten. Wahrnehmung und delirierender Wahn sind bei ihm nicht mehr auseinander zu halten. Albin beginnt zu recherchieren, was geschah. Der Wahrheit kommt er nicht näher, doch er entfernt sich immer weiter von Livia und ihrer Wirklichkeit.

Erzählt werden diese Ereignisse von dem Kunststudenten Olaf, der sich mit einer Gruppe von Kommilitonen und dem ebenfalls recht trinkfreudigen Professor Nager im November 1994 für eine Woche auf Studienreise in Istanbul aufhält. Im Hotel begegnet die Gruppe Livia und Albin. Livia verliebt sich in den Studenten Jan, Albin und Nager freunden sich als Kampftrinker an. Albin erzählt nur wenig von seinen Bemühungen, etwas über die Hintergründe des Mordes zu erfahren. Bis er selbst spurlos verschwindet und die Gruppe nach ihm zu suchen beginnt.

Der Roman wäre nun herzlich uninteressant, wenn es bei diesen Geschehnissen bliebe. Doch Peters fädelt einen zweiten Erzählstrang ein, der sich mit dem ersten gelegentlich kreuzt, der aber in der entgegengesetzten Richtung läuft. Olaf ordnet das Geschehen chronologisch und ein wenig bieder als auktorialer Erzähler. Albin, monologischer Ich-Erzähler der zweiten Handlungsebene, beginnt mit dem Ende und treibt von hier aus allmählich und in immer schnellerem Tempo der Assoziationen dem Anfang entgegen. Die äußere Zeit scheint unterdessen still zu stehen. Während einer Fahrt mit der Fähre über den Bosporus erleidet Albin gleich am Anfang des Buches einen Herzanfall und stürzt am Ende unbemerkt ins Meer. Im Augenblick des Todes hat er in seinen Gedanken den Moment der Geburt erreicht. Im letzten Satz fällt beides zusammen: „Das Schwarz dahinter ist schön. Sonst nichts.“

Peters ist ein perfekter Techniker. Das erzählerische Wagnis, die Chronologie umzukehren, meistert er bravourös. Albins Spiegelgeschichte ist das Gegenteil eines Entwicklungsromans: eine Auslöschung. Albin hat alles zerstört, was er geschaffen hat: seine Liebe, seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Arbeiten. Statt idealer Büsten hinterlässt er nur Trümmer zerstörter Kunstwerke. Je tiefer er in seine Vergangenheit entgleitet, umso stärkere Szenen gelingen Peters: Bilder einer Kleinstadtkindheit mit einem gewalttätigen Vater und einer schwachen Mutter, Bilder von Verlassenheit und Not.

Peters hat Kunstgeschichte studiert, kennt sich also mit Fragen der Perspektive aus. Als Erzähler bevorzugt er nicht die Zentralperspektive, sondern betrachtet das Geschehen von entgegengesetzten, randständigen Punkten aus. Dadurch schieben sich die Bilder übereinander, werden seltsam kontrastarm und unscharf. Der Betrachter muss versuchen, die Fragmente selbst zusammenzusetzen – oder es eben lassen, weil doch gerade die Ungeordnetheit der Wirklichkeit entspricht. Alles, was als „wahr“ erscheint, ist eine Konstruktion. Auf dieser Ansicht baut Peters seinen Roman, und er überlässt nichts dem Zufall.

Für das Erzählen ist das eine riskante Ausgangsbasis, weil sie sich selbst untergräbt. Albin sieht das so: „Simulierte Handlungen, weil man irgend etwas tun muss, weil man nicht nichts tun kann, aufgrund der äußeren Erfordernisse. Daraus wird im Rückblick ein Leben.“ Das ist seine notdürftig übertünchte Ratlosigkeit. Die Notwendigkeit des Erzählens müsste angesichts dieser Unwirklichkeitsempfindung neu erfunden werden – und vielleicht hat es mit diesem Mangel zu tun, dass das „Tuch aus Nacht“ über weite Strecken so wenig zu fesseln vermag. Der Roman wird beherrscht vom Willen zur Konstruktion, dem Witz und Ironie geopfert wurden. In den vielfachen Spiegelungen, den absichtsvoll gelegten Sackgassen kann sich nichts frei entwickeln.

Das erzählerische Gewebe, das Peters so kunstvoll knüpft, erscheint wie die Ornamente des Teppichs, den Professor Nager auf einem Bazar erwirbt. Da gilt die „Aneinanderreihung von Formen und Farben ohne Zentrum, rein additiv“. Der Professor vermutet dahinter „das Prinzip der Entropie, die gleichmäßige Verteilung von Temperatur und Energie im Raum, keine Differenzen, keine Dynamik. Das Ende jedweder Bewegung. Darauf laufe es hinaus.“ Paradoxerweise handelt Peters’ „Tuch aus Nacht“ vom totalen Kontrollverlust. Seine Struktur demonstriert jedoch die totale Kontrolle. Das Beunruhigungspotenzial wird formal so gebändigt, dass man die Machart bewundert, ohne davon berührt zu werden. Entropie mag für Teppichornamente taugen, aber nicht unbedingt fürs Erzählen.

Christoph Peters: „Das Tuch aus Nacht“. Roman. Goldmann Verlag, München 2003, 318 Seiten, 21,90 €