Der Diagnostiker

James Graham Ballard ist tot. Der Autor war nie sehr berühmt – aber unglaublich einflussreich

David Cronenberg hat eines seiner Bücher verfilmt – „Crash“. Steven Spielberg auch – „Das Reich der Sonne“. Joy Division haben einen Song nach einem seiner Bücher benannt – „The Atrocity Exhibition“. James Graham Ballard, der am Sonntag im Alter von 78 Jahren gestorben ist, war nie sonderlich populär, aber er war so einflussreich wie wohl kein anderer britischer Autor seiner Generation.

Eine ganze Weile lang ordnete man ihn der Science-Fiction zu, was wegen seiner frühen Beiträge zum legendären New Worlds Magazine nahelag. Ballard freilich nahm auf Rubrizierungen nie Rücksicht, trieb das Erzählen weit in Richtung Stillstand. Manche seiner Klassiker sind allegorisch zu nehmen: „Concrete Island“ etwa (von 1974) über einen Architekten, der sich als Crusoe der Gegenwart sein Leben mit einem verunfallten Jaguar auf einer Verkehrsinsel einrichtet. Anomie und Zerfall sind Ballards große Themen, aber seine avantgardistische Konsequenz liegt darin, dass sie seinen besten Büchern auch ihre Form geben. In „Kristallwelt“ gefriert die Welt, auch die Sprache selbst. Klar, hart und kaum mehr psychologisch entzifferbar ist der Wahnsinn unserer Gegenwart, der in den kurzen Textfetzen von „The Atrocity Exhibition“ (1969) so faszinierend wie abstoßend zur Darstellung kommt.

In Zeiten des Posthistoire kamen seine Versionen unserer Welt als vermeintliche Dystopien sehr in Mode. Die Mode ging, wie sie kam, aber seither ist Ballard nicht weniger als ein Monument. Gewaltig ist sein Einfluss, weniger in der Literatur, mehr in der Kunst, in der Musik, in der Popkultur, nicht zuletzt in der Architekturtheorie. Alle Einordnungsversuche blieben hilflos, denn die Schublade, in die man Ballards Texte stecken kann, gibt’s einfach nicht.

Seine auf nüchterne Weise verheerenden Gegenwartsdiagnosen sind alles andere als einfach Kulturkritik. Immer spricht aus seinen Darstellungen Entsetzen und Fasziniertsein im genau gleichen Maß. Ballard verabscheute, was alle Welt doch sehr liebt: Vereinfachung, Nostalgie und Sentiment. Die offiziellen Würdigungen hielten sich schon deshalb in Grenzen, aber einen wie ihn hat der Nobelpreis eh nicht verdient. So wurde Ballard stattdessen einer der seltenen Autoren, die ihre Gegenwart derart zur Kenntlichkeit entstellen, dass ihr Eigenname zum Adjektiv wird. Mit dem im Englischen gebräuchlichen Wort „Ballardian“ ist unsere Welt als die seine treffend beschrieben.

Am meisten gelesen ist sein autobiografisches Buch „Im Reich der Sonne“. Er schildert darin die Jahre, in denen er als Jugendlicher in Schanghai während der japanischen Besetzung in einem Lager interniert war. Als Ballard vor Jahren an Krebs erkrankte, machte er sich daran, einen weiteren Band über sein Leben zu schreiben. „Miracles of Life“ erschien 2008 und wurde –bisher jedenfalls – wie so vieles von Ballard nicht ins Deutsche übersetzt. EKKEHARD KNÖRER