Ausbrüche

Frederike Kretzen und Sabine Peters verarbeiten in ihren Texten die Auseinandersetzung mit sich selbst

„Um dich herum steht deine Generation, in diesem Land in keine Kindheit entlassen (...). Von Anfang an waren wir nicht, wo wir waren.“ Es ist die Geschichte einer Generation im Zwischenraum, die Friedrike Kretzen in ihrem Roman Übungen zu einem Aufstand, aus dem sie im Literaturzentrum lesen wird, erzählt.

1956 geboren, gehört sie zu jenen, die noch das Nachbeben des Aufbruchs von `68 spürten. Eine Atmosphäre des Möglichen, die sich bald verlor in der „bleiernen Zeit“ und spätestens 1977 endgültig vorüber war, als jene Frau, die über „Mädchen in Erziehungsheimen“ schrieb, Ulrike Meinhof, tot war.

In einer Theatergruppe probt die autobiographisch angelegte Ich-Erzählerin Marie mit anderen Studierenden Mitte der 70er Jahre den Aufstand. In „Übungen“ versuchen sie auf der Bühne die Ausbrüche, welche im Leben viel schwerer fallen: aus der Stummheit der Eltern, aus der Enge der Städte, aus dem umfassenden Gefühl, sich selbst zu fehlen. 1981 treffen sich alle noch einmal im alten Theatersaal. In einer assoziativen, bilderreichen Sprache schildert Kretzen die Kindheitserinnerungen, vermischt mit gesammelten Erfahrungen.

Angesichts des Gefühls, geschichtslos zu sein, wird das Verlangen spürbar, sich wenigstens jener Jahre des versuchten Aufstands zu vergewissern; sie in einer inszenierten Wiederholung zu durchschreiten und so ein Stück eigene Geschichte zu entwerfen.

Autobiographische Züge trägt auch die Erzählung Abschied von Sabine Peters. Aus der Perspektive der Tochter Marie wird von der Krankheit und vom Sterben des dominanten, sprachgewaltigen Vaters erzählt: „Doktor Phil“, der seine Töchter Eins, Zwei, Drei und Vier ruft. So sehr sich deren Alltag verändert, so sehr bleiben die eingefahrenen Familienstrukturen erhalten, spitzen sich alte Konflikte zu. „Vielleicht kann man mitten im Krieg sterben, und wenn es nur der mit den Töchtern ist. Nur dass Marie ganz gerne ihren Frieden mit ihrem Vater schließen würde. (...) Aber der Vater beharrt auf dem wunden Punkt. (...) Der Punkt ist der Verletzungswille.“

Genaue, fast sachliche Beobachtung und eine assoziative, atmosphärisch dichte Sprache wechseln sich ab. So fächert Peters ein Kaleidoskop der Gefühle auf: Einfühlsam vermittelt sie das Schwanken Maries zwischen Wut und Versöhnungswunsch, dem Bestehen auf sich selbst und dem Ringen um Verständigung. Das „Projekt vom Frieden mit dem Vater“ – auch angesichts des Sterbens ist es nicht bruchlos einzulösen, ist der Abschied schwieriger. CAROLA EBELING

Friederike Kretzen: Übungen zu einem Aufstand. Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M./Basel 2002, 195 S. Sabine Peters: Abschied. Wallstein Verlag, Göttingen 2003, 143 S. Lesung: Mi, 3.12., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38