: „Die russische Seele ist furchtbar“
Irina Pabst
Sie spricht nicht gern über sich. „Ich habe nichts Besonderes im Leben getan“, sagt sie. „Ich bin nirgendwo gefährdet, ich bin keine Heldin. Ich kann etwas machen oder es sein lassen.“ Zum heutigen Welt-Aids-Tag allerdings gibt sie doch ein Interview. Denn die Berlinerin mit russischer Seele ist die Grande Dame der Aids-Hilfe in der Stadt. Seit 14 Jahren betreut sie Kranke, außerdem hat sie die Aids-Gala in der Deutschen Oper ins Leben gerufen. Derzeit versucht Sie, auch in Petersburg eine Opern-Gala auf die Beine zu stellen. Irina Pabst wurde in Berlin geboren. Ihr Vater war ein russischer adliger Offizier. Er flüchtete in den Zwanzigerjahren nach Berlin. Vor ihrer Ehe machte Irina Pabst eine kurze Karriere als Schauspielerin
Interview: WALTRAUD SCHWAB
taz: Frau Pabst, Sie sind Grande Dame der Aids-Hilfe. Wie wird man das?
Irina Pabst: Jeder kann helfen. Ich bin ja im Vorstand der Axel-Springer-Stiftung, da hat mich Herr Springer vor 22 Jahren drum gebeten – kommen Sie, trinken sie erst mal einen Schluck Tee.
Hat die Axel-Springer-Stiftung auch Aidskranke unterstützt?
Nein, Liebling, das hat damit gar nichts zu tun. Vor 14 Jahren bin ich ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus, wo viele Aidskranke waren, und habe gefragt, ob jemand da ist, der an mir Freude hätte.
Gab es jemanden?
Nach ein paar Tagen hat man mich angerufen und gesagt, da ist ein junger aidskranker Arzt, kommen Sie. Es war Zuneigung auf den ersten Blick. Sein Freund war in Amerika verstorben. Drei Jahre lang war ich ständig für ihn da.
Was hat den Ausschlag für Ihr Engagement gegeben?
Gar nichts. Ich hätte auch Obdachlose besuchen können, aber das ist für eine allein stehende Frau eine schwierige Sache auf dem Bahnhof.
Sie haben nicht mit der Arbeit aufgehört, nachdem Ihr erster aidskranker Freund gestorben war.
Nein, obwohl mir Frau Springer gesagt hat, du hast genug getan. Ich bin weiter ins Krankenhaus zum „Café Viktoria“, und da war eine entzückende Frau, die die Krankheit hatte, und die habe ich dann über Jahre begleitet. Sie wohnte am Schlesischen Tor. Also ganz weit von mir, und das war das einzige Opfer, das ich immer gebracht habe: diesen weiten Weg in der Sommerhitze, und nie habe ich einen Parkplatz bekommen.
Vor 14 Jahren gab es ja noch so eine Hysterie um Aids.
Die interessierte mich nicht. Gerade weil es die Hysterie gab, bin ich ins Krankenhaus gegangen.
Gegen alle Konventionen.
Ich war ein Leben lang gegen Konventionen. Ich hatte meine eigenen Gesetze, nach denen ich erzogen worden bin. Als ich mit der Arbeit anfing, fragte mich jemand, ob ich was gegen Homosexuelle habe. Da war ich erstarrt, ich fragte zurück: „Haben Sie was gegen Russinnen?“ Ich bin Russin. So eine Frage an jemanden wie mich zu stellen, in dieser Weltstadt! Unverständlich. Ich bin Weltbürgerin. Wir alle müssen Weltbürger sein.
Sie sind in einem internationalen Milieu aufgewachsen. Ihr Vater hieß von Udinzoff. Er war Exilrusse.
Meine Eltern sind russische Emigranten. Mein Vater, er war Offizier, russische Militärakademie mit Auszeichnung, hat eine große Rolle gespielt im Kampf gegen die Diktatur.
Gegen Stalin?
Die Bolschewisten. Stalin kam später, aber das würde zu weit führen.
Er ist nach Berlin geflüchtet?
Er wurde zum Tode verurteilt in Russland und ist dann nach Deutschland geflohen. Er war so hingerissen von den Deutschen, dass er nicht nach Paris gegangen ist, wo er eigentlich hinwollte. Ich wurde in Berlin geboren.
Berlin war bei den russischen Migranten in den 20er-Jahren beliebt.
Die Russen lieben die Deutschen, sie beten sie an. Na Gott, für die Russen ist auch Paris was Einmaliges. Mama hat gehofft, dass sie nach Frankreich gehen kann, sie sprach fließend Französisch. Nun trinken Sie mal und essen Sie was.
Wie viele Aidskranke haben Sie in den 14 Jahren begleitet?
Hans, Marita, dann Helmut, den habe ich nur im Krankenhaus besucht, der war schwerstkrank. Die anderen waren manchmal auch zu Hause. Und Eugen, den kenne ich jetzt schon lange. Zwischendurch noch andere. Die Leute sind mir ans Herz gewachsen.
Im Grunde ist das Sterbebegleitung.
Da ich bei allen immer hoffe, dass sie ein Leben lang leben, ist das keine Sterbebegleitung. Ich bin für sie da, und sie sind für mich da. Ohne Hoffnung können sie nicht leben. Die Hoffnung bei den Aidskranken ist gewaltig, sensationell. Die haben ja mehr Hoffnung als jemand, dem es gut geht.
Ist karitative Arbeit Teil von Ihnen?
Teil meiner Erziehung. Meine Eltern haben mir das beigebracht. Wohltätigkeit gehört zum Leben. Wissen Sie, nach dem Tod meines geliebten Mannes und meiner geliebten Eltern und Brüder, die nacheinander starben, hätte ich nicht überlebt, wenn ich nicht Axel und Friede Springer gehabt hätte, die mich täglich angerufen haben. Ich habe die Hilfe genauso erfahren, und ich gebe sie nur weiter, weil ich dann ja die Kraft hatte.
Eine Frage des Menschseins?
Es gehört sich so. Springer hat immer gesagt: „Achtet mehr auf die Witwen und die Waisen.“ Er hatte das aus der Bibel oder ich weiß nicht woher. Das hat er im vollendeten Maße gemacht. Nicht nur für mich, die Frau seines besten Freundes. Das ist das Schöne im Leben. Ich würde das auch für jeden machen, es sei denn, er wäre KZ-Aufseher oder so was. Als ich ein Kind war, aber das würde alles zu weit führen, hatten meine Eltern jüdische Freunde, und das war klar, man rannte und brachte. Man tut doch das Menschenmögliche.
Haben Sie den Krieg hier erlebt?
Ja, ja. Wir haben jeden Tag unter Bomben gelegen. Heute, am 22. November vor sechzig Jahren ist Berlin schwer zerstört worden. Das waren die größten Luftangriffe auf Berlin. Ich bin über Leichen gelaufen, es brannte überall.
Wie erträgt man Krieg als Kind?
Man war genau so verliebt. Man teilte eben die eine Kartoffel und schüttete Wasser dazu, und das war dann für sechs Leute eine Kartoffelsuppe, und einer bringt Mehl, und in der Bratpfanne macht man das bräunlich und macht damit die Suppe bräunlich.
Hatten Ihre Eltern Schwierigkeiten unter den Nazis?
Wissen Sie, das würde jetzt zu weit führen. Das ist eine neue Geschichte. Das hat mit Aids nichts zu tun. Ich hatte keine Schwierigkeiten. Ich wurde auf Händen getragen, obwohl ich staatenlos war. Ich war ja Russin.
Überhaupt keine Probleme?
Wissen Sie, ich liebe Deutschland, und ich kenne so einmalige Deutsche, die geholfen haben, nicht uns, man brauchte uns ja nicht helfen. Wir haben versucht zu helfen. Als die Großeltern meiner Kinderfreunde abgeholt worden sind, haben sie uns Kinder in die Küche getan, damit wir nicht mitkriegen, wie die Waffen-SS mit Gewehren diese armen jüdischen hinreißenden Großeltern abholten. Da war ich so verzweifelt, dass ich den beiden Brüdern gesagt habe: „Wenn ich groß bin, heirate ich euch beide.“ Was weiß ein Kind? Die Tante von denen war Ida Maximowna, eine der größten Bühnenbildnerinnen, Freundin meiner Eltern. Diese Tante traf ich wieder, da war ich schon Witwe, und sie sagte: „Jetzt müssen Sie den einen heiraten, der ist geschieden worden.“ Da sagt ich: „Ich liebe meinen Mann.“ Da sagte sie: „Versprochen ist versprochen.“
Sie haben sehr lange gebraucht, um den Tod Ihres Mannes zu überwinden?
Ich war zerbrochen an seinemTod. Aber das war nicht der Grund meines Engagements. Ich hatte nun Zeit. Hätte ich meinen Mann noch gehabt, hätte ich das nicht machen können.
Nach der Zeit der Trauer sind Sie nach außen gegangen.
Ich trauere ja noch immer. Die Zeit ist nur bald abgelaufen. Ich sehe ja alle bald wieder.
Sie sind religiös?
Sehr. Ich glaube nicht an den Tod. Es gibt nur ein Hinübergleiten. Natürlich, ich bin auch nicht mutig, ich will nicht leiden. Ich hoffe, dass eine wohltätige Hand mir Morphium gibt und so.
Vor 14 Jahren sind Sie ins Krankenhaus gegangen, und seither gehen Sie regelmäßig zu Aidskranken. Wie kam es aber zusätzlich zur Aids-Gala?
Vor 12 Jahren war ich in der Oper. Dort habe ich Alard von Rohr kennen gelernt. Er hat mir gesagt, lassen Sie uns was gemeinsam machen, Wohltätigkeit. Da habe ich gesagt: „Lassen Sie uns was für Aidskranke machen.“
Das Gespräch mit Freunden hat den Ausschlag gegeben?
Es war Fügung. Ich war ja nur zufällig in der Oper, kannte auch Doktor von Rohr nicht, aber „machen wir, machen wir“, hat er gesagt. Vor zehn Jahren war die erste Aids-Gala. Die Berliner haben sie angenommen. Irgendwoher müssen 2.000 Leute ja kommen. Damals hatten wir keine Ehrengäste, keine Prinzessinnen, was ich ja immer für idiotisch halte, Hauptsache, die Politiker kommen und solidarisieren sich.
Seither machen Sie Lobbyarbeit für die Aids-Gala?
Ist das Lobbyarbeit? Es kommen ja die besten Sänger, und Loriot moderiert. Volkswagen hat vom ersten Mal an mitgemacht, und da hat keiner an Erfolg geglaubt. Aber Lobbyarbeit? Schreiben Sie lieber: Bettelarbeit. Ein Aidskranker hat das mal so gesagt.
Dieses Jahr hat die Aids-Gala mehr als 400.000 Euro eingebracht, sie werden in ein Wohnheim für Aidskranke in Kreuzberg investiert. Hat sich durch die bessere Medikation aus Ihrer Sicht für die Kranken viel geändert?
Überhaupt nicht. Gut, sie verlängert das Leben, aber die Nachteile der Tabletten sind sehr groß, nehmen Sie mal 16 Tabletten am Tag. Ich nehme ja nicht mal Kopfschmerztabletten. Nicht weil ich gegen die Chemie bin. Ich habe sogar mit schwerer Migräne Theater gespielt, da war das Gesicht ganz verquollen.
Also es hat sich nichts verändert?
Natürlich gibt es medizinische Fortschritte. Sie können das Leben verlängern, manches hat man im Griff. Sehen Sie, bei Hans kamen ganz blaue Flecken im Gesicht, das gibt es heute nicht mehr. Aber jetzt gibt es Verwirrtheit. Wie Alterdemenz. Medizinisch verstehe ich gar nichts, das müsste ich studieren. Ich bin jemand, der rein menschlich für die Kranken da sein will, mit meinem ganzen Herzen und meiner ganzen Kraft.
Sie geben viel. Was bekommen Sie?
Aufrichtige Zuneigung. Was sehr Seltenes. Die schlimmste Krankheit, für die es auch keine Medikamente gibt, das ist die Einsamkeit. Gegen die Einsamkeit gibt es keine Tabletten.
Haben Sie Einsamkeit erlebt?
Nein, auf keinen Fall. Ich hatte ja Axel und Friede Springer.
Haben Sie Ausgrenzungserfahrungen gemacht, die Sie die Ausgrenzung, die die Aidskranken erlebten, haben verstehen lassen?
Um Gottes willen, allein dieses Wort „Ausgrenzung“, Schatz, Liebling, das würde alles zu weit führen. Migrantenkinder sind immer hin und her gerissen. Das ist wie bei Kindern von geschiedenen Eltern. Mal wollen sie hierhin und mal dahin.
Haben Sie einen deutschen Pass, aber eine russische Seele?
Ich bin eine russische Seele. Und ich finde, die russische Seele ist furchtbar. Sie ist kompliziert, sie ist schwierig, man macht sich das Leben schwer, man steht sich immer im Wege. Ich kann es ja sagen. Ich bin Russin.