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Archiv-Artikel

Alte Neue Wellen

Das Thessaloniki International Filmfestival feierte in seinen Retrospektiven die beiden Filmemacher João César Monteiro und Nikos Panayotopoulos

VON SVEN VON REDEN

„Griechenland ist die Wiege der Zivilisation“ – dieser Satz, der mittlerweile selbst für Sonntagsreden zu abgedroschen klingt, wird mehrfach in Manoel de Oliveiras „Um filme falado“ wiederholt. Der 94-jährige Portugiese versucht in seinem neuesten Werk den Kulturraum Mittelmeer mit seinen unterschiedlichen Sprachen und Religionen auf seine glorreiche zivilisatorische Tradition einzuschwören und so in der Gegenwart zusammenzubringen, allerdings auf derart didaktische und selbstgefällige Art, dass sein Film nur für ein wertkonservatives Bildungsbürgertum erträglich sein dürfte. Die Reise einer Geschichtsprofessorin mit ihrer Tochter per Schiff von Lissabon über Marseilles, Neapel, Athen, Istanbul zum Suezkanal Richtung Indien nimmt Oliveira als Hilfsmittel, um in langen Redepassagen Schulbuchgeschichte zu rekapitulieren.

Eine ähnliche Reise von West nach Ost bot auch, abseits vom Wettbewerb, das Programm des diesjährigen Internationalen Filmfestivals von Thessaloniki: Eine Hommage widmete sich dem Werk des im März verstorbenen portugiesischen Filmemachers João César Monteiro, eine Retrospektive dem griechischen Filmemacher Nikos Panayotopoulos und ein Schwerpunkt dem Filmschaffen der zentralasiatischen Länder. Die Filme von Monteiro und Panayotopoulos wirkten dabei wie ein Antidot zu Oliveiras außerhalb des Wettbewerbs gezeigtem Film: Nostalgie und Selbstgefälligkeit kommt bei ihnen nur vor, um gleich hinterfragt oder lächerlich gemacht zu werden.

Für Monteiro war nichts heilig, seine Filme kümmern sich nicht um Logik und Ordnung, entweihen alles Religiöse und Ehrwürdige (auch kanonische Meisterwerke der Filmgeschichte wie „Citizen Cane“ oder Bressons „Pickpocket“) und machen sich lustig über politische Ideologien – am meisten aber über den Regisseur selbst, der häufig in seinen Filmen auch die Hauptrolle spielt. Wenn für Monteiro etwas heilig ist, dann jede Form der sexueller Ausschweifung: In „Recordações da Casa Amarela“ (1989) schlürft Monteiros bekanntestes Alter Ego, der unwürdige Greis João de Deus, das Badewasser einer jungen Frau aus, um genüsslich ihre Schamhaare herauszufiltern; in seinem letzten Film „Vai-e-Vem“ lässt er sich mit einem riesigen Holzdildo von seiner kommunistischen Putzfrau („Ich zahle dir so wenig Gehalt, um deine revolutionären Impulse intakt zu halten“) penetrieren. Diese Szenen irritieren besonders durch Monteiros zwar frivole, aber zugleich höchst poetische Texte und seine minimalistische Ästhetik. Seine Filme bestehen zumeist aus langen starren Einstellungen, die wie eine Folge von Bühnenbildern aneinander gereiht sind. Häufig entsteht der Humor erst durch stoische Wiederholungen, die irgendwann von einer unerwarteten Aktion unterbrochen werden. Im dreistündigen „Vai-e-Vem“ bleibt die Kamera starr, bis sie kurz vor Schluss – ohne jegliche dramaturgische Funktion –einen 360-Grad-Schwenk vollführt. Ein Witz, der zeigen soll, dass man im Film ohne Weiteres auf die bewegte Kamera verzichten kann.

In Nikos Panayotopoulos’ „Melodrama“ (1980) dreht sich die Kamera auch im Kreis, ohne damit in irgendeiner Weise Ballhaus’sche Virtuosität auszustellen. Ein Mann und eine Frau stehen sich gegenüber und monologisieren abwechselnd. Statt die Szene wie üblich in Schnitt und Gegenschnitt aufzulösen, lässt Panayotopoulos die Kamera langsam kreisen und richtet so die Aufmerksamkeit auf die filmische Konvention. Seine Werke handelten immer auch von der Frage „Was ist Kino?“, meinte Panayotopoulos auf dem Festival, und da er immer noch nicht die Antwort gefunden habe, mache er weiter. Er ist ein Filmemacher des Selbstzweifels: Seine Helden suchen nach ihrer Identität und gleichzeitig stellt er immer wieder die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer filmischen Repräsentation der Realität. „Das Kino ist ein offenes Fenster auf die Welt“, dieses Zitat des französischen Filmtheoretikers André Bazin steht am Anfang von „Melodrama“. Wir sehen durch ein offenes Fenster auf eine Landschaft. Eine alte Frau kommt und schließt das Fenster. Der Film beginnt. Erst am Ende wird sie das Fenster wieder öffnen. Cineasten dürfte das genügen, um Panayotopoulos als Schüler Godards auszuweisen, doch ihm fehlt die oftmals abweisend wirkende intellektuelle Kühle des Franzosen, er ersetzt sie durch eine ironische Selbstdistanz.

Monteiro und Panayotopoulos lebten in den 60er- und 70er-Jahren für längere Zeit in London und Paris, erst nachdem in ihren Heimatländern 1974 die Diktaturen zusammenbrachen, konnten sie ihre gewagten Filme in ihren Geburtsländern verwirklichen. Die Retrospektiven in Thessaloniki erinnern daran, dass jenseits von Frankreich und Italien, verzögert durch die politischen Umstände, auch in anderen Mittelmeerländern Regisseure in „neuen Wellen“ einen filmischen Aufbruch proklamierten, die allerdings bislang einer Wiederentdeckung harren.