Der Hauptmann von Schwachhausen

In einem Verfahren wegen Amtsanmaßung wird der Angeklagte wohl freigesprochen, weil er zum Tatzeitpunkt im Knast saß. Die Staatsanwaltschaft hat das übersehen. Von einer eventuellen Überlastung will niemand sprechen

Bremen taz ■ Jedes Gerichtsverfahren sagt immer auch etwas über die Anklagebehörde aus. Als Staatsanwältin Birte Bernhardt die Anklage gegen Polat S. verliest, lehnt sich der entspannt zurück. „Amtsanmaßung“ lautet der Vorwurf, den die Anklägerin in harschem Ton erhebt. Ihr Blick fällt in den kahlen, karg möblierten Raum. Einzig eine braune Holzvertäfelung, hinten an der Wand vor der Richterbank, kann hier noch als Schmuck dienen.

Der Beschuldigte habe sich im vergangenen August als Polizist ausgegeben, setzt Bernhardt fort, kurz vor Mitternacht auf der Schwachhauser Heerstraße einen anderen Autofahrer per Lichthupe angehalten, die Herausgabe der Personalien gefordert. Der Angeklagte lächelt müde. Nachher steht er noch einmal vor Gericht – eine Haftprüfung, wegen gefährlicher Körperverletzung.

In Handschellen wurde er hereingeführt, in Begleitung zweier Beamter. Ist der 25-Jährige ein neuer Hauptmann von Köpenick? An dem bulligen Deutsch-Türken erinnert nichts an Heinz Rühmann oder gar den wahren Schuster Voigt. Die Haare trägt S. stoppelkurz, dazu einen Norwegerpulli, Turnschuhe. „Mein Mandant kann es nicht gewesen sein.“ Verteidiger Armin von Döllen gibt sich siegesgewiss. Der Angeklagte habe zum Tatzeitpunkt im Knast gesessen. Das einzige Indiz, sagt der Anwalt, sei ein Handy, angemeldet auf den Namen des Beschuldigten. Es wurde im Auto des Tatverdächtigen gefunden.

„Was machen wir jetzt?“ fragt die Richterin in die Runde. Die einfachste Lösung: Ein Anruf bei der JVA in Oslebshausen, jetzt und hier in der Verhandlung. Gesagt, getan. Niemand erhebt Einwände, der Anruf erfolgt. Die Richterin greift zu einem alten grauen Telefon, dass hier schon viele Jahrzehnte Dienst tut. Er sei erschüttert, sagt der Anwalt, des Datenschutzes wegen.

Das ist ein wenig überdramatisch. Zumindest hat Stefanie Petersen, Referentin beim Landesbeauftragten für den Datenschutz, im nachhinein wenig Bedenken anzumelden – „zumindest, wenn die Richterin stimmmäßig bekannt ist“.

Offensichtlich ist das der Fall. Die Auskunft kommt jedenfalls prompt zurück: Der Verteidiger hat recht, sehr wahrscheinlich jedenfalls, auch wenn der Angeklagte tagsüber im offenen Vollzug war. „Eine Beweisaufnahme ersetzt das natürlich nicht“, wird Döllen später sagen.

Eine peinliche Niederlage für die Staatsanwaltschaft? Bernhardt behauptet, sich zum Verfahren nicht äußern zu dürfen. Der Sprecher der Behörde schweigt zu dem Fall. Drei Zeugen wurden vernommen und vorgeladen, mehrere StaatsanwältInnen hatten die Akte in der Hand. Fehler passierten eben, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Und Döllen – hatte nach Ende der Ermittlungen keine Akteneinsicht mehr, sagt er. „Es wurde kommentarlos ein Strafbefehl beantragt“. Dabei sieht Paragraf 203 der Strafprozessordnung vor, dass ein Verfahren nur dann eröffnet werden darf, wenn der Angeschuldigte einer Straftat „hinreichend verdächtig“ erscheint.

Am Rande der Verhandlung wird die Staatsanwältin zur Verteidigerin in eigener Sache. 350 Fälle habe sie im vergangenen Monat auf dem Schreibtisch gehabt, klagt sie dem Rechtsanwalt. Jeder versuche, seine Akten möglichst schnell wieder loszuwerden, schon der Statistik wegen.

Das Verfahren gegen Polat S. wird eingestellt – vorausgesetzt, er war wirklich in seiner Zelle. Rund 50.000 Verfahren hat die Staatsanwaltschaft Bremen jährlich zu bewältigen, 10.000 mehr als noch in den 1980ern. Gleichzeitig ist die Zahl der MitarbeiterInnen um rund ein Viertel auf 188 gesunken. Die Belastung sei „immens“ bestätigt Justizstaatsrat Ulrich Mäurer. Doch beklagen will er sich nicht. „Wir haben die personelle Entwicklung gut verkraftet.“ Jan Zier